Otto Glöckel

Gegen die Prügelstrafe, für lebensnahen Unterricht

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Demnächst jährt sich der 150. Geburtstag des roten Schulreformers Otto Glöckel. Er war heiß umfehdet, wild umstritten, fest geschlossen.

Otto Glöckel wurde am 8. Februar 1874 in Pottendorf in Niederösterreich geboren. Der 150. Gedenktag droht gegenüber Persönlichkeiten wie Karl Kraus, Max Reinhardt oder den Bruckner-Feiern unterzugehen. Das mag überraschen, war doch Glöckel die wohl ideologisch umstrittenste Persönlichkeit der Ersten Republik. Sein pädagogisches Wirken – der Kampf für eine moderne Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer, gegen die Prügelstrafe, für einen lebensnahen Unterricht – war von heftigen Fehden begleitet.

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Der Hauptgrund für die Feindschaft gegenüber einem Menschen, dessen Privatleben von Familiensinn, Güte, hoher Musikalität und einem unerschütterlichen Glauben an das Wissen durchdrungen war, lag in einem Beschluss des Kabinetts Renner am 11. April 1919. Er umfasste gerade einmal neun Zeilen und betraf die „Aufhebung des Zwangs zur Teilnahme der Schuljugend an religiösen Übungen“. Otto Glöckel berief sich auf das Staatsgrundgesetz 1867.

Das besagte, dass niemand zur Teilnahme an kirchlichen Handlungen gezwungen werden könne. Dennoch wurde in den Schulen der Monarchie kontrolliert, ob die Kinder an Gottesdiensten, Fronleichnamsprozessionen oder Wallfahrten teilgenommen hatten. Glöckels umstrittener Erlass untersagte das, ließ aber den Religionsunterricht unberührt. Schulen dürften bloß die Teilnahme am Gottesdienst nicht kontrollieren oder die ausgegebenen Beichtzettel verlangen.

Die Mutter war tief katholisch

Glöckel hatte dafür wahrscheinlich auch persönliche Motive. Seine heiß geliebte Mutter war tief katholisch, er selbst Ministrant. Der Bruder seines Vaters war Pfarrer. Bei ihm verbrachte er glückliche Ferienwochen. Er blieb seinem Onkel bis zu dessen Lebensende herzlich verbunden. Der Religionsunterricht in seiner Volksschule war jedoch etwas völlig anderes. Hier erlebte er einen prügelnden Dechanten. Kann man, um Ewin Ringel zu zitieren, bei Glöckel von einem „Glaubensverlust durch religiöse Erziehung“ sprechen? 

Im Haus seines Onkels, des Pfarrers, sah er Priester bei Kartenpartien. Der Wein sei in Strömen geflossen, berichtet er. Als eines Tages eine alte Frau flehentlich um eine Messe für ihren todkranken Mann bat, verlangte der so behelligte Priester fünf Gulden. Die Frau wickelte aus ihrem Sacktuch das Geld. Es landete als Einsatz auf dem Kartentisch. So die Kindheitserinnerung Glöckels.

Auch die persönlichen Erfahrungen als Lehrer in einem Wiener Armenviertel mögen wenig zum Vertrauen des lernbegierigen jungen Manns in das Lueger‘sche Wien beigetragen haben. Als Schriftführer eines Unterlehrervereins – Obmann war der spätere Wiener Bürgermeister Karl Seitz – hatte er Forderungen nach mehr Kindergärten, unentgeltlichen Lehrmitteln und besserer Bezahlung mitformuliert. Dafür traf ihn Luegers Bannstrahl. Er musste in der Zeitung lesen, dass „der provisorische Unterlehrer Glöckel ohne Disziplinarverfahren fristlos entlassen“ sei. „Mein Lebenstraum war zerstört. Ich stand vor dem Nichts. Ich ging in den Schönbrunner Park und konnte dort der Tränen nicht Herr werden“, berichtet er in den Lebenserinnerungen. Es war ein Gewaltakt, der seinen Weg in die Politik vorzeichnete.

Er wurde zum Hassobjekt

Welche persönliche Erfahrung immer Glöckel zu dem Kabinettsbeschluss 1919 geführt haben mag, rechtfertigt das kaum die Reaktionen, die über ihn hereinbrachen. Er wurde zum Hassobjekt der christlich-sozialen Pressepolemiken. Man beschuldigte ihn, die „geschlechtliche Lust der Kinder aufzureizen“, weil über venerische Erkrankungen aufgeklärt wurde. In Karikaturen wurde er, der Nichtjude, antisemitisch verunglimpft. Seinen Unterricht verspottete man als Volksverdummung.

Die logische Konsequenz dieses Scheibenschießens war 1934 die Verhaftung. Man beseitigte eine an dem Februaraufstand völlig unbeteiligte Symbolfigur. Glöckel kam in das Anhaltelager Wöllersdorf, wo man ihn länger als andere Prominente festhielt. In Haftbriefen an die beiden Bundeskanzler Dollfuß und Schuschnigg weist er auf schwere gesundheitliche Leiden hin und hält ausdrücklich fest, dass sein Verhältnis zum sogenannten niederen Klerus immer gut gewesen sei. Probleme habe es mit Kirchenoberen gegeben. Seine untadelige Amtsführung könne der christlich-soziale Staatssekretär im Unterrichtsministerium Hans Pernter – er überlebte später nationalsozialistische Konzentrationslager – bestätigen.

Überflüssig zu sagen, dass keiner der Briefe Wirkung zeigte. Glöckel wurde mit schweren Herzproblemen als einer der Letzten aus dem Anhaltelager entlassen. Kurz darauf starb er, ein Opfer des „Ständestaats“.

Musterbeispiel der Reformen

Der Hass gegen ihn endete nicht mit seinem Tod. Als bei seinem Begräbnis ein eidgenössischer Trauerredner sagte „Die Schweiz wird Otto Glöckel nicht vergessen“, hörte man aus der Menge „Wir auch nicht!“ Die Rufer wurden von Staatspolizisten festgenommen, verhört und inhaftiert. Verhaftungen bei einem Begräbnis – wie tief konnte politischer Hass gehen! Vielleicht liegt in solchen Episoden die Abneigung von Teilen der Sozialdemokratie gegenüber Dollfuß und Schuschnigg bis weit in die Zweite Republik.

Glöckels Schulreformen galten im Ausland als Musterbeispiel der Reformen des Roten Wien. Internationale Delegationen besuchten die Wiener Schulen, bürgerliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wirkten mit und Persönlichkeiten wie der Junglehrer Karl Raimund Popper begeisterten sich dafür. Die Gemeinde Wien finanzierte ein psychologisches Institut an der Uni Wien. Es wurde unter Karl Bühler eines der produktivsten in Europa. Am Wiener Pädagogischen Institut lehrten Weltkapazitäten. Maria Montessori durfte Schulen in Wien errichten – an einer unterrichtete die junge Anna Freud.

Ikone der Sozialdemokratie

Die Sozialdemokratie erhob Glöckel zur Ikone. Am Gebäude des Stadtschulrats, dem Palais Epstein, wurde eine Gedenktafel enthüllt. Bei der Übernahme durch das Parlament wurde sie abmontiert und erst nach Interventionen wieder angebracht. Wien vergab Otto-Glöckel-Medaillen und benannte Schulen nach ihm. Sein Name durfte in keiner Rede eines sozialdemokratischen Politikers fehlen. Seinen Beitrag zur Humanisierung des österreichischen Bildungswesens haben ehemalige Mitarbeiter in der Zweiten Republik fortgeführt.

In den vergangenen Jahrzehnten hat ein privater Verein Tausende Dokumente über Glöckel und die Wiener Schulreformen gesammelt, archiviert und in einem aufgelassenen Schulgebäude am Stadtrand präsentiert. Es war eine ehrenamtliche Initiative, die sich anfänglich der Unterstützung des Wiener Gemeinderats erfreute. Zum Unterschied von Niederösterreich und anderen Bundesländern, in denen Schulmuseen gefördert und beworben werden, verflog jedoch das Interesse der Wiener Stadtverwaltung an ihrem Schulmuseum. Die zuständige Magistratsabteilung ließ es vor drei Jahren schließen. Seither schlafen Tausende Dokumente und Lehrgegenstände einen erzwungenen Dornröschenschlaf. Ein Weckruf des aufmerksamen „Presse“-Chronisten Wolfgang Freitag verhallte im Rathaus ungehört.

Ein Glöckel-Schulmuseum, fest geschlossen: Auch so kann man den 150. Todestag eines der bedeudensten Schulreformer der vergangenen hundert Jahre begehen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

(„Die Presse“, Printausgabe 31.1.2024)

Zum Autor

Kurt Scholz (* 1948) war Wiener Stadtschulratspräsident (1992–2001) und langjähriger Vorsitzender des Zukunftsfonds und hat Entscheidendes zur Verankerung des Fonds in der Community geleistet.

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