Vorabdruck

„Zweimal in der Woche nach Herzenslust schießen können“ – Paul Auster über die Waffenliebe der Amerikaner

Aus der Reihe „American Dreamscapes“ von Christian Heeb: „The good old way“.
Aus der Reihe „American Dreamscapes“ von Christian Heeb: „The good old way“.Foto: Christian Heeb/Laif/Picturedesk
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In meiner Vorstadtwelt waren Waffen kein Thema. Wäre ich anderswo aufgewachsen, wer weiß, ob sie nicht auch für mich zu einer Selbstverständlichkeit geworden wären. So wie für zig Millionen Amerikaner. Vorabdruck aus Bloodbath Nation.

Ich habe nie eine Schusswaffe besessen. Jedenfalls keine richtige, doch bin ich, kaum den Windeln entwachsen, zwei oder drei Jahre lang mit einem Revolver an der Hüfte herumstolziert. Ich war Texaner, auch wenn ich in den Vorstädten von Newark, New Jersey, lebte, denn Anfang der Fünfziger war der Wilde Westen überall, und Legionen kleiner amerikanischer Jungen waren stolze Besitzer eines Cowboyhuts und einer billigen Spielzeugwaffe samt zugehörigem Kunstlederholster. Gelegentlich wurde eine Rolle Zündblättchen vor den Hahn des Revolvers gespannt, Ersatz für das Geräusch echter Kugeln, wenn wir zielten und feuerten und wieder einmal einen Schurken aus der Welt beförderten. Meistens jedoch drückten wir einfach ab und schrien: Peng, peng, du bist tot!

Ursprung dieser Fantasien war das Fernsehen, eine Neuheit, die sich exakt zur Zeit meiner Geburt (1947) zu verbreiten begann, und da das Haushaltsgerätegeschäft meines Vaters auch diverse Fernsehmodelle führte, darf ich mich rühmen, weltweit einer der Ersten zu sein, die seit dem Tag ihrer Geburt mit einem Fernseher im Haus gelebt haben. Hopalong Cassidy und The Lone Ranger sind mir am besten in Erinnerung geblieben, doch im Nachmittagsprogramm meiner Vorschuljahre gab es eine wahre Flut von billigen Western aus den Dreißigern und frühen Vier­zigern, oft mit dem gut aussehenden, athletischen Buster Crabbe und seinem kauzigen Kumpan Al St. John in den Hauptrollen. Alle diese Filme waren der reine Schund, aber das konnte ich mit drei, vier, fünf Jahren nicht erkennen, und eine Welt, sauber aufgeteilt in Männer mit weißen Hüten und Männer mit schwarzen Hüten, war genau das Richtige für die beschränkten Fähigkeiten meines jungen, einfältigen Verstands.

Der Spielzeugrevolver an meiner Hüfte

Jeder in diesen Filmen trug eine Waffe, Helden und Schurken gleichermaßen, doch nur die Waffe des Helden war ein Werkzeug der Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit, und da ich mich nicht als Schurken, sondern als Helden sah, war der Spielzeugrevolver an meiner Hüfte ein Zeichen meiner eigenen Güte und Tugend, handfester Beweis meiner idealistischen Pseudomännlichkeit. Ohne ihn wäre ich kein Held gewesen, nur ein Niemand, nur ein Kind.

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