Gastkommentar

Wohin Pisa-Maßstäbe die Gesellschaft führen werden

Peter Kufner
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Die Schule der Zukunft muss nicht die Kompetenz forcieren, sondern interessanter, lebensnaher und lebendiger werden.

Auf der Welt gibt es viel Interessantes und Schönes: Erkennen, Genießen und gute Beziehungen wären so die Schlagworte. Beziehungen sind dabei wohl das Wichtigste. Dennoch scheint die heutige Welt schlichtweg beziehungsunfähig. Nur: Ist uns das bewusst?

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Auch wenn die Ursachen des Weltzustands angesichts aktueller Konflikte und Kriege unterschiedlich sein mögen, gibt es viel Übereinstimmung. Mittlerweile lastet die Hauptschuld für böse Taten oder für das Unglück der Menschen nicht nur auf diversen falschen Einstellungen der Menschen selbst – von denen die wichtigsten Intoleranz und Werterelativismus sind.

Vielmehr ist die Globalisierung in ihrer neoliberalen Prägung und deren lenkende Struktur an vielem beteiligt, was wir gerade an Negativem erleben. Und zwar deshalb, weil diese neoliberale Struktur mit ihrer Steigerungslogik auf zahlreichen Ebenen unserer Existenz die Pflege von intakten Beziehungen zu Natur und Mensch im Keim erstickt. Interessant ist dabei, dass der ab 1990 einflussreicher werdende Neoliberalismus und die damit einhergehende weltweite Zunahme des Konsumverhaltens ohne besonderen Zwang, ja beinahe unbemerkt geschah.

Das Freiheitsversprechen

Das hat viele Gründe. Der wichtigste war wohl die versprochene und hoch gelobte Freiheit durch Wachstum und Konsum.

Um dieses Freiheitsversprechen weltweit Realität werden zu lassen, waren und sind adäquate Strategien notwendig: starke Lobbys und – was denn auch sonst – entsprechende Bildung! Um Letztere zu gewährleisten, gab und gibt es auf der ganzen Welt (ob China, Japan, England und auch hierzulande) zahlreiche Bildungseinrichtungen, Berater und Influencer, die für gutes Geld überall und jederzeit bereitstehen. Bildung ist schließlich ein hervorragendes Geschäft.

Das Schulsystem ist nicht autonom und hat somit keine Instrumente, um den Einfluss der Außenwelt zu filtern. Es kann also alles in die Schule eindringen – auch die Pisa-Anforderungen, die als weltumspannende und zukunftsträchtige Bildungsreform daherkommen.

Seit der Einführung des Pisa-Tests (2000) gehören auch die öffentlichen Schulen Österreichs zu jenen Bildungsstätten, die vermehrt kompetenzorientierte Pädagogik anbieten. Sie ähneln also den privaten, Marketing-orientierten Bildungsanstalten immer mehr.

Dabei geht man davon aus, dass die Schule der Zukunft der Jugend messbare „Outputs“ in die Hand gibt, um sie erfolgreich zu machen. Geht es nach Pisa, so ist der Erfolg hierzulande mäßig, China und Singapur hingegen sind Weltklasse.

Prompt bemüht man sich um einen Kurswechsel im Bildungssystem und schiebt unwichtig erscheinende Fächer zur Seite. Dazu gehören in erster Linie Kunst und Geisteswissenschaften. Sämtliche Kanons der Weltliteratur wurden in den letzten 20 Jahren marginalisiert oder aus den Lehrbüchern beseitigt. Und damit auch die Ansicht, dass Bildung ohne Herzensbildung letzten Endes keinen Sinn macht.

Österreich liegt aktuellen Pisa-Ergebnissen zufolge im Mittelfeld. Für viele ein unzureichendes Ergebnis. Schuld am dürftigen Ergebnis sei das Schulsystem, heißt es. Familien, die ihren Kindern bei der Erledigung der Hausaufgaben nicht helfen oder für die Kosten einer Nachhilfe nicht aufkommen können, bleiben dem Bildungsgeschehen fern. Bildung wird in Österreich also stark „vererbt“. So die gängige Analyse.

Es finden sich zahlreiche Argumente gegen das Pisa-Verfahren, dennoch setzen sich nur wenige Fachleute damit auseinander. Was passiert aber, wenn das angeblich „Vererbte“ gar keine Bildung ist? Wer übernimmt dann die Verantwortung?

Liebevoller Umgang

Die Frage der Bildungsübertragung ist jedenfalls komplex. Ein Beispiel: Unseren Studienergebnissen zufolge weisen nicht jene Kinder ausgeprägtes künstlerisches Kapital auf, deren Eltern ein höheres Einkommen haben, sondern jene, deren Eltern einen liebevollen Erziehungsstil pflegen. Und wichtiger: Jene Jugendlichen, welche die meisten Kunstschaffenden aus dem ihnen in unserer Studie vorgelegten Kanon kennen, weisen zugleich die friedfertigsten Einstellungen auf. Das ist wiederum für die Demokratie wichtig.

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass es vorrangig wäre, unsere Kinder, die neugierige, offene Wesen sind, nicht für irgendetwas „Nützliches“ zu instrumentalisieren, sondern sie einfach liebevoll zu behandeln – zu Hause und in der Schule. Das stärkt die Schulleistung und zugleich den Sinn für Demokratie. Zu erreichen ist dies auch ohne hohen Bildungsstand und mit bescheidenen Ressourcen.

Entlang der Pisa-Studie lässt sich ablesen, dass es mittlerweile nicht nur im Bereich des Managements, sondern auch im Kontext der öffentlichen Schule um die Totalisierung des Könnens und um Konkurrenz geht. Um die Freiheit, die sich durch Positionen und nicht durch die Qualität der Beziehungen zur Welt und den Lebewesen definiert. Eine bedenkliche Entwicklung, die das Menschsein auf das Maschinelle reduziert.

Ein anderer Weg

Wie lässt sich dieser Teufelsküche entkommen? Im Moment sind bezüglich Bildung zwei Bemühungen zu erkennen: eine gängige und eine neuere.

Im Sinne der gängigen Bemühungen ist der Weg entlang der Kompetenzen der einzig gangbare. Es wird notwendig sein, so lautet der Ansatz, den benachteiligten Kindern anhand einer niederschwelligen Didaktik jene Kompetenzen beizubringen, die Pisa für notwendig hält.

Die andere Möglichkeit liegt in der Verbesserung der Beziehungen am Schulort und in der Revidierung des aktuellen Bildungsbegriffs.

Einigkeit herrscht bisher darüber, dass der Weg gelingender Schule nur über Beziehungen laufen kann, und darüber, dass die Schule attraktiver gestaltet werden muss. Die Frage des Bildungsbegriffs bleibt – bis auf einige Ausnahmen – bisher unberührt. Was dabei vernachlässigt wird: dass Bildung auch zur Gestaltung gelingender Beziehungen und zur Gestaltung der Demokratien beitragen muss. Bildung muss, so etwa Julian Nida-Rümelin in seinen jüngsten Publikationen, mehr humane Bildung und demokratische Werte vermitteln.

Das Schulklima verbessern

Ob sich die zweite Option jemals durchsetzt, ist derzeit völlig ungewiss. Doch Fakt ist: Bleiben die von den Pisa-Tests forcierten Schwerpunkte weiterhin im Mittelpunkt, so wachen wir wohl bald in einer Gesellschaft auf, die voll von kompetenten, kampfwilligen und angepassten Menschen ist, die weder Zeit noch Ressourcen dafür haben, der Welt und ihren Mitmenschen empathisch, respektvoll und auf Augenhöhe zu begegnen.

Fakt ist auch: Solange das Schulklima nicht deutlich verbessert wird, kann weder die eine noch die andere Option eingelöst werden. Die Schule muss also bald interessanter werden – lebensnaher und lebendiger. Sonst verliert sie ihre Anziehungskraft endgültig. Und dann könnte es passieren, dass eines Tages niemand mehr hin will.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Zoltan Peter (*1963, Rumänien) Doktoratsstudium am Institut für Soziologie an der Uni Wien. Obmann des Vereins für Kultur- und Migrationsforschung. Jüngstes Projekt: Offenheitsaspekte und Toleranzdimensionen der Schule.

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