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Wortwiege Theaterfestival

Theater und Salon gegen das Zerbrechen

Musik gegen den Schlachtlärm: Nico Dorigatti in Mrożeks „Schlachthof“.
Musik gegen den Schlachtlärm: Nico Dorigatti in Mrożeks „Schlachthof“.Victoria Nazarova
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Bühne. Die Leiterin des wortwiege-Theaterfestivals, Anna Maria Krassnigg, erklärt im Gespräch die
Positionierung und die Highlights des Programms.

Wie kamen Sie auf das heurige Motto des wortwiege-Theaterfestivals, „fragil“ respektive „fragile“?

Wir versuchen ja immer, Reizworte im eigentlichen Sinn zu finden, also solche, die uns – und unsere Zeit – in Atem halten. Heuer haben wir uns für „fragil“ entschieden, weil das für uns einen Bewusstseins-, aber auch einen Gesellschaftszustand beschreibt. Man hat in den aktuellen Debatten oft das Gefühl, dass ein falscher Ton oder eine falsche Geste schon eine Eskalation auslösen kann, die zwar teils freudig aufgenommen wird, die aber Gräben in Gesellschaft und Gemeinschaft vertieft. Diese Bruchlinien haben bei der Auswahl der heurigen Texte eine Rolle gespielt. Dass das Wort gleich in mehreren Sprachen passt, ist ideal für unsere Bestrebungen, nun auf bescheidene, aber schlagkräftige Weise ein internationales Festival zu werden, zu dem auch kleine, feine Produktionen aus anderen Ländern eingeladen werden. 

Warum haben Sie als Hauptproduktion heuer Grillparzers „Medea“ gewählt?

Weil darin all das unglaublich gut gespiegelt ist. Wir zeigen kulturelle Brüche zwischen zwei Ländern – wiewohl wir sie gar nicht so unterschiedlich präsentieren, wie das oft der Fall ist. Denn letztlich gehören beide zu einem Kulturraum. Und gerade dieses Fremde in der Nähe, dieses nahe Fremde heizt ja derzeit so viele Debatten an. Wir erleben entsetzliche Kriege benachbarter Staaten. Die Frage, wie bei so viel Nähe in vielerlei Hinsicht so große Gräben aufbrechen konnten, ist ein Thema in „Medea“, das uns beschäftigt.

Was bewirkt die Konzentration auf die Sicht der Hauptfigur, wie Sie sie vorhaben?

Nicht verarbeitete Konflikte und Medeas Versuch, das Unheil zu bannen, treten stärker hervor. Je mehr sie das versucht, desto schlimmer wird alles. Uns interessiert, dass jemand, der eigentlich das geistige Rüstzeug hätte, einen Konflikt zu lösen, in eine Unausweichlichkeit gerät, die zu einer der fürchterlichsten Tatmuster überhaupt führt. Es wirkt so, als ob ihre Konflikte als innerer Film ablaufen.

Arbeiten Sie dies auch visuell heraus?

Ja, wie stets interessiert uns als wortwiege das Thema des Traums und des Unterbewussten sehr. Und somit auch das Herandrängen des Fremden in uns selbst, des nicht Überwundenen, des nicht Bewältigten. Das hat stark mit Bildern zu tun.

Sie arbeiten, wie von wortwiege gewohnt, sehr komprimiert mit wenigen Darstellerinnen und Darstellern. Was macht das mit dem Stück?

Wir haben einen Cast von nur vier Personen, wie immer arbeiten wir bei Klassikern nach dem Prinzip des Destillats. Dadurch wird alles gewissermaßen hochprozentiger. Es wird auf die Konflikte fokussiert, die uns heute angehen. Wir sehen Medea nicht als entgleiste oder verrückte Person, sondern als Teil eines großen Liebespaars, unter dunklen Bedingungen. Und als starken Charakter, der dennoch zerbricht. Es geht uns darum, dass Menschen heutzutage, egal ob durch Kriege, Konflikte, Teuerung oder anderes, spüren, dass es keineswegs selbstverständlich ist, die seelische Gesundheit zu erhalten. Niemand ist gefeit davor, zu brechen oder zu zerbrechen, wir sind alle fragil. Weil uns das immer mehr bewusst wird, sind wir so unruhig.

Als zweites Bühnenwerk bringen Sie Sławomir Mrożeks „Schlachthof“. Was fasziniert Sie daran und inwiefern schließen Sie an die wortwiege-Aufführung von Václav Havels „Audienz“ vom Vorjahr an?

Uns beschäftigt nachhaltig, wie sich Menschen in totalitären Systemen verändern. Havel und Mrożek stellen Künstler:innen als sensible Personen vor, die nach einem menschenwürdigen Leben streben, was allerdings durch die politischen Umstände immer mehr erschwert wird. Uns geht es beim Politischen nicht um Etikettieren, Dokumentieren oder Kommentieren des Tagespolitischen, sondern um die Bearbeitung von Stoffen, die zeigen, woher das Politische seine Macht bekommt. Mrożek ist ein wunderbarer Autor, der dies mit Erzählwucht, großer Fabulierkunst und gleichzeitig zum Brüllen komisch zeigt. Außerdem merkt man jederzeit diesen dunklen Unterton, der so viel mit unserer aktuellen Verunsicherung zu tun hat.

In der Reihe „Reden!“ bringen Sie heuer eine von Virginia Woolf und eine von Bertha von Suttner. Wo sehen Sie den Konnex zum Programm?

Diese Reihe entstand ja aus unserer Erkenntnis, dass Reden letztlich eine Art Mini-Monodramen sind – und großartiges Schauspielerfutter. Daraus wurde die Idee geboren, dass wir historische oder zeitgenössische, jedenfalls literarisch interessante Reden nachstellen, auch in der Rollengestaltung. Da wir ohnehin einen starken Frauenspielplan haben, wollten wir zwei Rednerinnen zu Wort kommen lassen, die über fragile Situationen sprechen und ihre Visionen präsentieren, um Bruchlinien zu kitten. Lisz Hirn, Wolfgang Müller-Funk und Irene Giner-Reichl werden diese dann in den heutigen Kontext stellen.

In den wortwiege-Salons beschäftigen Sie sich mit „zentralen Themen der zerbrechlichen Zeit“, was sind diese?

Das Stammpublikum weiß, dass es in den Salons die Themen der Stücke nochmals vertiefen kann. Wir gehen der Frage nach, was all diese Krisen mit unseren Seelen machen. Im Salon zu „Medea“ überlegt man gemeinsam, wie wir verhindern können, dass man an einen Punkt kommt, wo etwas ein menschliches Maß übersteigt. In einem anderen werden wir uns auf differenzierte Weise den Israel-Palästina-Konflikt anschauen.

Wie kam es zu den Gastspielen der israelischen Gruppen?

Wir haben in den vergangenen Jahren ein Netzwerk von Theatermachern und Theatermacherinnen aufgebaut, die nun Produktionen austauschen. Das ergibt die SEA CHANGE Collection.

Die beiden israelischen Gruppen haben wir vor eineinhalb Jahren eingeladen, als man noch gar nicht absehen konnte, wie bedrückend aktuell die Arbeiten nun sind. Einerseits kommt eines der bekanntesten Theater aus Israel mit der Produktion „The Anthology“, einer wilden, poetischen Geschichte über Identität und den Konflikt verschiedener Kulturen sowie den Versuch, diesen zu kitten. Es ist eine jüdische Salongeschichte, die mit Klischees spielt. Andererseits haben Ido Shaked und Hannan Ishay eine Art Stand-up-Comedy darüber kreiert, dass sie, egal wo sie arbeiten, immer zuerst Rede und Antwort zur Situation in ihrem Land stehen müssen, bevor sie überhaupt kreativ werden können. Nach dem 7. Oktober brauchte dies natürlich eine Überarbeitung. Aber als ich fragte, ob sie ihr Stück nun noch machen können, kam als Antwort: „Wo sollen wir die Situation denn sonst verarbeiten, wenn nicht auf der Bühne . . .“ Und genauso sehen wir als wortwiege die Aufgabe des Theaters.

Auf einen Blick

„fragil/fragile“ lautet das Motto des kommenden wortwiege-Theaterfestivals in den Kasematten Wiener Neustadt. Vom 21. Februar bis 24. März stehen zwei neue Inszenierungen, zwei internationale Gastspiele mit israelischen Theatermacher:innen im Rahmen der SEA CHANGE Collection, die Fortsetzung der Serie „Reden!“ sowie die thematisch vertiefenden „Salons“ auf dem Programm.

Seit 2020 hat sich das Theaterfestival der wortwiege in den Kasematten Wiener Neustadt etabliert. wortwiege steht für Autor:innentheater und dramatisches Erzählen und bearbeitet Stoffe von der Antike bis in die Gegenwart. Künstlerische Leiterin ist Anna Maria Krassnigg. Das Festival definiert sich als Ort lebendiger darstellender Kunst, des Austauschs und der Verhandlung.

https://www.wortwiege.at

Information

Dieser Beitrag erscheint mit finanzieller Unterstützung des Theaterfestivals der Wortwiege.


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