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Was ist so schlimm daran, ein Untertan zu sein?

Der Versailles Room in Pandora’s Box, New York: warten auf Mistress Natasha.
Der Versailles Room in Pandora’s Box, New York: warten auf Mistress Natasha.Foto: Susan Meiselas/Magnum/Picturedesk
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Selten hört man jemanden sagen: Da habe ich mich gegen meine Freiheit entschieden, bin mitgelaufen aus freien Stücken, war eine Knechtin, war ein Lemming. Die Unterwerfung ist allenfalls als sexuelle Spielart enttabuisiert.

Und alle lachen. Jungen wie Mädchen. Alle lachen über die dummen Sprüche des Oberarschs. Und in allen Schulen gibt es einen Oberarsch, der den anderen erklärt, wie es zu laufen hat. Und seinen engsten Kreis, der darauf wartet, dass er jemanden in die Mangel nimmt. Und sein Publikum – alle Kinder, die es mitkriegen und sich amüsieren. Darauf lässt sich alles zurückführen.
Aus Virginie Despentes: „Liebes Arschloch“

Dieser „Oberarsch“ ist omnipräsent. Wir kennen ihn alle. Aus der Kindheit, der Pubertät, als Erwachsene. Um ihn kreisen die Debatten unserer Zeit, egal ob als Bully in der Schule, in der Politik, in Unternehmen, in der Zivilgesellschaft, am Familientisch. Irgendwo unterdrückt immer irgendwer irgendwen, manipuliert, intrigiert und verführt vermeintlich unbeteiligte Dritte. Und diese Verführten sind am Ende höchstens Opfer, werden nie zur Verantwortung gezogen – waren „nur“ mit dabei, Ja-Sager und Mit-Nickerinnen. Über ihr Verhalten haben sich Expertinnen aus unterschiedlichen Disziplinen seit Jahrhunderten den Kopf zerbrochen. Warum Tyrannen gewähren lassen? Ihnen gar dienen? Ist es Zwang oder schon Lust?

Letzteres.

Das würde der französische Richter Étienne de La Boétie behaupten. Seine Anklageschrift „Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen“, verfasst im 16. Jahrhundert, dient vielen auch heute noch als Orientierung in dieser Frage. Darin widmet er sich genau dem Menschenschlag, der die Tyrannei ermöglicht: den Unterdrückten, die in ihre Unterdrückung einwilligen. Sie sind der Garant jedes Tyrannen. Ihr Einverständnis, sich beherrschen zu lassen, ermöglicht erst seine Herrschaft. Warum sie das tun? Weil sie sich an ihre Knechtschaft gewöhnt und ihre Freiheit vergessen haben, „das Gift der Sklaverei schlucken und nicht mehr bitter finden“. 

Der Autorität unserer Eltern beugen wir uns, um zu überleben

Einige lassen sich einlullen von Brot und Spielen. Andere profitieren von der Nähe zur Macht und stützen ihrerseits als Mikro-Tyranninnen das System und sichern so einmal mehr seinen Fortbestand. Den Ursprung für diesen „hartnäckigen Willen zur Botmäßigkeit“, der stärker im Menschen verwurzelt zu sein scheint als „die Freiheitsliebe“, sieht de La Boétie in der ersten Beziehung, die wir mit unseren Mitmenschen eingehen: jene mit unseren Eltern. Diese Beziehung ist seiner Ansicht nach geprägt von Gehorsam. Der Autorität unserer Eltern beugen wir uns, um zu überleben. Darauf lässt sich jedes zukünftige Unterwerfungsgebaren zurückführen. Ein Gedanke, der über die Jahrhunderte hinweg oft als Erklärung für den „Unterwerfungstrieb“ der Menschen herangezogen wurde. Seine Anfälligkeit dafür, sich unterzuordnen, zu gehorchen, ist in diesem ersten Verhältnis begründet, in der „Untertänigkeit“ gegenüber den Eltern, dem ersten Ausgeliefertsein gegenüber einer höheren Macht.

Die französische Philosophin Simone de Beauvoir fasst diese Ur-Unterwürfigkeit als „erste Bedingung des Individuums“ noch etwas weiter. Als Kind würde man in eine Welt hineingeboren werden, mit all ihren Werten, Autoritäten und Bedeutungen, die ohne das eigene Zutun geformt wurde. Sie wird als etwas Absolutes gesehen, dem das Kind „nur Achtung zollen und gehorchen“ darf. „.Es ist abhängig von dieser fremd geschaffenen Welt und ist gezwungen, sich ihr anzupassen. Erst in der Pubertät beginnt sich der Mensch aus dieser Abhängigkeit zu lösen und zu befreien. Doch wer sich für die Freiheit entscheidet, entscheidet sich auch für das Ungewisse, das Risiko, die schiere Existenzangst. Sie hat ihren Preis. Und für manche könnte er so hoch sein, dass sie es lieber ganz bleiben lassen. Dass sie es bevorzugen zu regressieren, wieder metaphorisch zu Kindern zu werden und „nur“ jene Kosten zu tragen, die es ihnen damals erlaubten, frei von jeglichen Ängsten ihre Existenz zu fristen: Gehorsam und Abhängigkeit. Besser im Bekannten angepasst zu verharren, als das Unbekannte zu wagen.

Daher klingt Étienne de La Boéties Appell „Seid entschlossen, keine Knechte mehr zu sein, und ihr seid frei!“ eher nach einem frommen Wunsch als einer realen Möglichkeit, sind doch die Hürden seit Kindheitstagen so unüberwindbar hoch angelegt, dass wir diese Freiheit erst gar nicht anzustreben bereit sind.

Die Angepasstheit oder gar die Unterwerfung als dem Menschen inhärent anzusehen als etwas, dem niemand entkommen kann, gefällt den wenigsten. Selten hört man jemanden sagen: Da habe ich mich gegen meine Freiheit entschieden, bin mitgelaufen aus freien Stücken, war eine Knechtin, war ein Lemming. Daher ist es umso bestechender, wenn sich dann doch mal wer dazu bekennt. Und das vor laufender Kamera. So wie Angela Merkel. In einem Fernsehinterview 1991 wird die 37-jährige Merkel, damals Frauenministerin unter Helmut Kohl, von Moderator Günter Gaus auf ihr Statement „Anpassung ist das Menschenrecht der Schwachen“ angesprochen. Er will wissen, wie es mit ihrer eigenen, ganz persönlichen Anpassung ausgesehen hat, und was sie, die in der DDR aufgewachsen war und dem kommunistischen Jugendverband der Freien Deutschen Jugend angehörte, dazu zu sagen hat. Spaß habe ihr die Zeit damals in der Partei gemacht, wenn nicht politisiert wurde, aber „ansonsten war es 70 Prozent Opportunismus natürlich“.

Natürlich.

Ohne Scham gibt Merkel das zu. Bestimmte Formen der Anpassung hat sie gewählt, um jenen Weg gehen zu können, den sie sich vorgestellt hatte. „Ich halte Anpassung für eine lebensnotwendige Sache und keinen Makel“, sagt Merkel in dem Interview. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sei die Anpassung in diesem für sie neuen Deutschland selbstverständlich Teil ihres Lebens gewesen, „auf eine andere Weise, aber auch Anpassung an bestimmte Verhältnisse“. Da sitzt keine, die gegen den Strom geschwommen ist, die damit kokettiert, aufbegehrt zu haben, die damit angibt, sich aus irgendeiner Abhängigkeit gelöst zu haben. Nein, Angela Merkel hat sich angepasst, weil das nun einmal das ist, was die meisten tun. Unter bestimmten Umständen tun müssen. Oder glauben, tun zu müssen. Und manche tun es sogar aus purer Lust.

Thomas ist Sklave

Thomas trägt seine Unterwerfung sichtbar am Hals. Auf einem schwarzen Lederband stehen die Initialen S und T. Sklave Thomas. Dazwischen ein Ring, um ihn bei Bedarf an die Leine zu nehmen und hinter sich herzuziehen. Thomas, schwarze Lederhose, schwarzes T-Shirt, spärliches Haar, schmal gebaut, ist Masochist. Die Hälfte der Zeit arbeitet er als Broker, die andere Hälfte ist der 65-Jährige ein Sklave. Seit 30 Jahren. Für mehrere Frauen in unterschiedlichen Studios, die seiner sexuellen Präferenz einen Raum bieten. Zum Zeitpunkt des Gesprächs 2018 war er im „Femdom“ in Regensburg, einem Ort knapp 20 Minuten mit dem Zug vom Zürcher Hauptbahnhof entfernt, bei „Herrin Ariadne“ im Dienst.

»Angela Merkel hat sich angepasst, weil das nun einmal das ist, was die meisten tun. Unter Umständen tun müssen. «

Der „Femdom“ bezeichnet sich als das größte Domina-Studio der Schweiz. Auf 350 Quadratmetern lassen sich die Kunden hier peitschen, melken, mit Nadeln in den Hodensack stechen oder eine Nacht lang in die Isolationszelle sperren, mit Pritschen und Stahlfesseln, überwacht von einer Infrarotkamera. Für die meisten ist es ein Spiel, ein Zeitvertreib, eine Dienstleistung, bei der sie selbst allerdings die Regeln vorgeben und für viel Geld fordern, was andere ihnen antun sollen. „Was soll das mit Herrschaft, mit Dominanz, mit Unterwerfung zu tun haben?“, kritisiert Thomas. Das interessiert ihn nicht. Er ist kein normaler Kunde. Er ist Sklave. Und als solcher will er auch behandelt und „als das, was ich bin, gesehen“ werden. Dafür putzt er im Studio, übernimmt alle Aufgaben, die ihm die Frauen auftragen, lässt sich herumkommandieren, holt bei Bedarf auch Journalistinnen vom Bahnhof ab. Alles, was die Herrinnen von ihm verlangen. Ohne Entlohnung. Wie ein Sklave eben.

Das Halsband mit den Initialen trägt er nun seit 15 Jahren. „Masochismus ersetzt das Begehren des Weiblichen durch die Anbetung des Weiblichen“, erklärt er. Er zeigt auf seinem Smartphone ein Foto, um zu konkretisieren, was er damit meint. Zu sehen ist eine wunderschön geschminkte Cindy Crawford, die lasziv in die Kamera schaut, während ein Mann ihre Füße lackiert. In ihrem wie in seinem Gestus spiegelt sich alles, was Thomas anzieht: die pure Anbetung einer Göttin, der Crawford hier sehr nahekommen würde. „Es geht um die Differenz“, erklärt er. „Normalerweise begegnen wir Menschen einander auf Augenhöhe. Doch die Anbetung funktioniert nur, wenn Sie die Differenz erhöhen, die Frau zur Göttin erheben. Können Sie eine Göttin flachlegen? Nein, das kann nicht sein.“

Eine Göttin würde man nicht unbestraft anstarren oder berühren können

Alles, was die Distanz von oben und unten erhöht, bereitet Thomas Lust. Wenn er gefesselt ist, die Frau vor ihm auf- und abgeht, in High Heels, extrem erotisch und extrem schön, „göttlich schön“, mit ihren Reizen spielt, und er keine Chance hat, sie anzusehen, geschweige denn anzufassen. Denn eine Göttin würde man nicht unbestraft anstarren oder berühren können. Man kann sich ihr nur unterwerfen. Selbst im Studio würden die Frauen diese Differenz nicht immer begreifen und den falschen Ton anschlagen, wenn sie ihn bitten, etwas zu tun, anstatt es ihm zu befehlen. Er will kein „Thomas, bitte könntest du?“, sondern ein „Thomas, mach!“. Die Kommunikation ist in diesem Kontext ausschließlich auf zwei Dinge beschränkt: Befehl und Gehorsam. Daran gilt es sich zu halten. Dass selbst den Profis das Aufrechterhalten der Differenz zwischen Herrin und Sklave nicht immer gelingt, ist gesellschaftlich bedingt, urteilt Thomas: „Das Bestehen auf Ungleichheit geht gegen unsere Normen.“

»Das Individuum passt sich nicht an, es macht sich die Welt passend. So lautet
die Prämisse der Moderne.«

Als Masochist versteht er sich als „Alchemist der Lust“. Nicht der sexuelle Verkehr bereite ihm Befriedigung, sondern wenn er sich zurückziehe. Dann gibt er sich einer endlosen Träumerei hin, in der er alle Stationen der Demütigung Revue passieren lässt, das Kloputzen, wie er herumkommandiert und heruntergemacht wurde vor Dritten. Bis zu acht Stunden kann das Kopfkino schon einmal dauern. Dass es sich dabei ausschließlich um eine sexuelle Fantasie handelt, darauf legt Thomas Wert. In den Alltag will er sein Verhalten nicht übersetzt wissen. „Ich hätte kein Problem damit, meiner Sekretärin Anweisungen zu geben und hierarchischen Mustern und Handlungsweisen in einer Firma zu folgen“, stellt er klar. „Das Problem ist nur das Sexuelle mit den Frauen.“ Da muss er dienen. Er lacht, wenn er sich an die Hochzeit seiner Schwester vor einigen Jahren erinnert. Eine Frau hat ihm dort gefallen, die er unbedingt ansprechen wollte. Ihm ist nur ein Satz eingefallen, um sich ihr zu nähern: „Was kann ich für Sie tun?“

Welchen Vorteil hat das Individuum mit seinem Verhalten?

Es ist paradox, wie die freiwillige Unterwerfung im Alltag nur als Sexualpräferenz enttabuisiert zu sein scheint. Ansonsten widerspricht sie dem Bild des selbstwirksamen Individuums, das sich in der Welt entwirft und sie sich untertan macht – nicht umgekehrt. Es passt sich nicht an, es macht sich die Welt passend. So die Prämisse der Moderne. Wer mit Verhaltensbiologinnen darüber spricht, bekommt als Reaktion ein gequältes Lächeln. Warum so viel Wertung? Warum so viel Moral? Warum nicht eher die Frage: Welchen Vorteil hat das Individuum mit seinem Verhalten, egal ob Anpassung oder Rebellion? In der Biologie gibt es darauf nämlich nur eine Antwort: Der Vorteil für das Individuum muss jedes Mal auf genau ein Ziel hinauslaufen, das Überleben. Ganz wertfrei, ohne anklagenden Subtext. The big picture.

Der Mensch, ein soziales Wesen, muss sich so verhalten, sich anpassen, sich mitunter unterwerfen. Als „Mängelwesen“, wie es der deutsche Philosoph Arnold Gehlen einmal formulierte, ist der Mensch von Geburt an auf die Fürsorge anderer angewiesen, um zu überleben. Und zwar nicht nur um des Überlebens willen. Sondern er muss auch lang genug am Leben bleiben, um den Fortbestand seiner Art zu sichern. Sein Fortpflanzungserfolg ist die einzige Wertung in der Biologie. Das ist das ultimative Ziel jedes Lebewesens: so viele Kopien seiner selbst wie nur möglich in die nächste Generation zu bringen. Für diesen Zweck ist kein Mittel zu moralisch oder unmoralisch.

Jedes Verhalten, das dieses Ziel begünstigt, ist wünschenswert und legitim. Sich einer Gruppe anzuschließen, sich ihr unterzuordnen, Seite an Seite zu kämpfen, zu kooperieren, freundschaftlich, empathisch, gar altruistisch miteinander umzugehen – all das dient letztendlich dazu, die idealen Bedingungen zu schaffen, um die eigene Art zu erhalten. Das ist der Tunnelblick des Lebens.

Einige fühlten sich angegriffen

Ein Blick, der angesichts der aktuellen Herausforderungen immer mehr Anklang findet. Auch abseits der Biologie. 2022 veröffentlichte der deutsche Soziologe Philipp Staab sein viel diskutiertes Buch „Anpassung“. Seine These löste bei einigen Rezensentinnen eine Abwehrhaltung aus. Fast so, als fühlten sie sich persönlich angegriffen, wenn der Autor dafür plädiert, die Perspektive zu wechseln: von einer Gesellschaft, die nach Selbstentfaltung strebt, hin zu einer, die den Selbsterhalt und die Anpassung zu ihrem Leitmotiv erklärt. Zu lange sei die Anpassung abwertend von der Soziologie besetzt worden, als Inbegriff des freiwilligen oder erzwungenen Konformismus, des Gehorsams und der Fügsamkeit – und damit als Gegenbegriff der Emanzipation. Stattdessen müsse sie als eine bereits gelebte Praxis verstanden werden, eine, „die Spielräume individueller und kollektiver Lebensführung eröffnet, statt sie einzuebnen, die Freiheit ermöglicht, statt nur gesellschaftliche Herrschaft zu repro­duzieren“.

Anpassung als Strategie der individuellen Rettung, gar Praxis des kollektiven Aufbruchs? Geht das?

Und wie.

Solmaz Khorsand

Das Buch „Untertan – Von braven und rebellischen Lemmingen“ erscheint am 26. Februar im Leykam Verlag. Solmaz Khorsand beleuchtet darin den Opportunismus in all seinen Facetten. Zuletzt erschien von ihr „Pathos“ (Kremayr & Scheriau). Für ihren Essay „Iranische Verwandlung“ wurde sie 2017 mit bei den Österreichischen Journalismustagen ausgezeichnet.

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