Spectrum Vorabdruck

Winzige Algen hingen an Michael

<strong>Es gab nur eine Richtung</strong> – vorwärts.
Es gab nur eine Richtung – vorwärts.Foto: Michael Runkel/Picturedesk
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Milosh war kein guter Schwimmer. Als er das Kind im Fluss bemerkt hatte, hatte er gezögert, an die Strömung gedacht. Da war Helena schon gesprungen. Wie wasserscheu er wirklich war, wusste nicht einmal sie, die Schwimmerin mit der Olympiamedaille. Ein Vorabdruck.

Michael fiel. Das würde seine erste Erinnerung sein. Er fiel und landete als silbriger Tropfen im Wasser, plötzlich erstarrt. Eine dieser Figuren aus geschmolzenem Zinn und Blei, die einst zur Jahreswende die Zukunft vorhersagten – das war er. Obwohl kein Jahr begann.

Er atmete nicht mehr. Er sank. So hätte sein Leben enden können.

Da bremste ihn etwas. Es gab wieder Schmerz, Lärm – vor allem das Geschrei der Eltern. Ob er sie als solche erkannte? Er kannte sie als Bewegung, die ihn der Leichtigkeit entriss – das Erstarrtsein war nicht unangenehm gewesen. Etwas warf ihn zurück an die Luft. Ein Naturgesetz? Helena, triefend nass, das grüne Hemd betonte die dunklen Höfe um ihre Brustwarzen, ihre Schuhe schmatzten bei jedem Schritt. Sie drückte den Sohn an sich, er japste nach Luft, erbrach einen Schwall Schlamm auf ihre Schulter, winzige Algen blieben im Stoff des Hemds hängen; sie spürte die Feuchtigkeit nicht. Der Schrei des Säuglings verscheuchte einen Schwarm Krähen auf Nimmerwiedersehen.

Vom sandigen Ufer flogen sie an der Steilwand entlang in den Himmel.

„Deine Mutter hat dir das Leben doppelt geschenkt“, sagte Milosh später oft. So formte er Michaels Erinnerung. Den Fluss hatten Helena und Milosh zuvor nie als Bedrohung betrachtet, eher als dekoratives Accessoire für die Aussicht von ihrem Esstisch aus. Die Wohnung war klein – aber der Blick!

Nun aber erklärte Milosh sich den Unfall nicht mit eigener Unaufmerksamkeit, sondern mit der ungenügenden Regulierung der Natur. „Aus rein ästhetischen Gründen, weil Leute wie du, Helena …“ Aber sie hatte das Kind ja herausgeholt. Er legte ihr den Arm um die Schultern, zuckte nicht zurück, als seine Finger den erbrochenen Schlamm berührten. „Wir sollten einen Antrag auf Trockenlegung stellen.“

Milosh war kein guter Schwimmer. Das sah man ihm nicht an, er war kräftig, muskulös. Er boxte, hob Gewichte. Als er das Kind im Fluss bemerkt hatte, hatte er dennoch gezögert, an die Strömung gedacht. Da war Helena schon gesprungen. Wie wasserscheu er wirklich war, wusste nicht einmal sie, die Schwimmerin mit der Olympiamedaille. Er verbarg es gut. Bei Wettbewerben saß er verlässlich auf der Zuschauertribüne.

Das Baby trainierte die Bauchmuskeln

„Wir sind schuld oder wären schuld gewesen.“ Helena reichte ihm das Kind, sie wollte sich die Nase putzen. Michael zappelte, trainierte vergnügt seine Bauchmuskeln, für ihn war der Vorfall schon vergessen, vorläufig, später würde die Erstarrung zurückkehren und das Gefühl, eine Figur aus ungewissem Material zu sein, ihm vertrauter vorkommen als jede Umarmung. Er würde Fragen haben, viele Fragen und niemanden, dem er sie stellen könnte.

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