„Ehi, piccola, wühlst wieder in meiner Kiste, Monika? Ich hab schöne neue Lieblinge für dich. Devi trovarli.“
Vorabdruck

Monika Helfer erinnert sich an ihr erstes Heft mit Stoffmustern

Ich kannte die Besitzerin eines Kurzwarengeschäfts, so hieß das damals, eine Italienerin, Falten im Gesicht wie Krepp – oder wie der Kenner sagt und schreibt: Crêpe. Unter vielem wie Knöpfen, Reißverschlüssen, Fäden, Garnen gab es auch Stoffe in ihrem Laden. Die günstigen waren in einer Schachtel an der Kasse, es waren Reste, Streifen bis zu armlang. Ein Vorabdruck.

Ich war ein Kind und liebte Stoffe. Und liebe sie noch. Sie anzugreifen, ihre Struktur zu erforschen, an ihnen zu riechen, zu reiben, sie ans Licht zu halten, ihre Reißfestigkeit zu prüfen, dies alles bereitet mir Freude.

Ich kannte die Besitzerin eines Kurzwarengeschäfts, so hieß das damals, eine Italienerin, Falten im Gesicht wie Krepp – oder wie der Kenner sagt und schreibt: Crêpe. Unter vielem wie Knöpfen, Reißverschlüssen, Fäden, Garnen gab es auch Stoffe in ihrem Laden. Die günstigen waren in einer Schachtel an der Kasse, es waren Reste, Streifen bis zu armlang, aber nicht breiter als ein Lineal, Fetzen, handteller- bis zu einem halben Quadratmeter groß, komplizierte Vielecke, die zu gar nichts zu gebrauchen waren, Ausgefranstes, Versteiftes zum Unterlegen. Aber auch Fell- und Lederreste. Sehr schön: eine Ledermusterpalette, das waren tropfenförmige Lederstücke in verschiedenen Farben und Oberflächenstrukturen, die an der spitzen Seite der Tropfen mit einer Niete verbunden waren. Die besseren Stoffe lagen in Regalen, aufgerollt auf harte Pappstreifen.

Die Frau kannte mich, sie mochte mich, sie mochte an mir, dass ich Stoff mochte. Ich war zwölf Jahre alt, und sie begrüßte mich: „Ehi, piccola, wühlst wieder in meiner Kiste, Monika? Ich hab schöne neue Lieblinge für dich. Devi trovarli.“

Ich wühlte und fand und bekam geschenkt und noch ein Stück draufgelegt. Aber es zog mich zu den Stoffballen. Ich schob meine Hände zwischen die kühlen Lagen und zog daran und rollte ein wenig auf. Es war wie Händewaschen. Wie Sich-Zurechtmachen für ein Fest.

Sie ließ mich. Sie legte mir noch ein paar Fetzen in meine Tasche und fragte: „Was wird daraus?“

Ich zuckte mit den Achseln. Nichts wurde daraus. Ich wollte die Stücke einfach besitzen. Ich wollte sie besitzen und anschauen. Ich hätte gerne eine Freundin gehabt, die auch sammelt, dann hätten wir tauschen können. Ich schnitt die Teile in kleine Quadrate, zehn mal zehn Zentimeter, und klebte sie an ihrem oberen Rand in ein Heft. Auf das Schildchen vorne schrieb ich: MONIKA HELFER STOFFHEFT EINS.

Notfall hieß, es geht abwärts

Es war ein blankes Schulheft, DIN A4, 40 Blatt. Nicht nur bei den Stoffen, auch bei den Heften gab es billige und teure. Die billigen hatten einen weichen, ins Orangefarbene spielenden Umschlag, bei den teuren war er dunkelblau-weiß gesprenkelt und hart. Fünf Stück von den teuren Heften besorgte ich mir. Das Geld dafür hatte ich meiner Stiefmutter aus der Zuckerdose geklaut. Sie hat es nicht gemerkt. Es war ihre Reserve. Die hat sie nie nachgezählt. Sie wollte sich selbst überraschen im Notfall. Doch in diesen Zeiten traten keine Notfälle ein. Es ging aufwärts, bei den einen schneller, bei den anderen langsamer, bei uns sehr langsam, aber doch aufwärts. Notfall hieß, es geht abwärts.

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