Fleisch war als Proteinquelle in vielen Kulturen unverzichtbar und besaß hohe soziale und religiöse Symbolkraft. 
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Werden wir morgen noch Fleisch essen?

Der Tisch ist die Bühne, auf der wir zeigen, wer wir sind oder wer wir sein wollen. Werden wir im 22. Jahrhundert die Wiederkäuer der Meere entwickeln? Oder wird sich Bioreaktor-Fleisch dauerhaft und preiswert durchsetzen?

Wie und was wir essen, ist von kulturellen Wertigkeiten geprägt und Ergebnis eines historischen Prozesses. Lebensmittel sind ein Symbol für Weltanschauungen und die Positionierung des Selbst. Der Tisch ist die Bühne, auf der wir zeigen, wer wir sind oder wer wir sein wollen. Im Verlauf der Menschheitsgeschichte erlernten wir die Jagd, später domestizierten wir Tiere. In jeder Epoche spiegelt die Tierproduktion landwirtschaftliches Wissen, technologische Innovationen und gesellschaftliche Diskurse: Ob Großställe und Käfighaltung als Fortschritt begrüßt oder als Tierquälerei verboten werden, ist abhängig von der Bewertung der Konsumenten und der Politik.

Fleisch war als Proteinquelle in vielen Kulturen unverzichtbar und besaß hohe soziale und religiöse Symbolkraft. Der Zugang zu amino- und fettsäurehaltigen Nahrungsmitteln war für die Entwicklung der Frühmenschen vor drei Millionen Jahren hoch relevant. Deren Ernährung war zwar überwiegend pflanzlich, aber sie bevorzugten das Fleisch aller jag- und fangbaren Tiere – inklusive Reptilien, Insekten, Fischen, Muscheln und Krebsen. Im Laufe der Zeit erschlossen sich unsere Vorfahren weitere Proteinquellen, wodurch ihr Hirnvolumen von etwa 500 auf 1300 cm3 wuchs. Vor 50.000 Jahren erreichten der Homo neanderthalensis und der zeitgleich auftretende moderne Mensch Homo sapiens das heutige Niveau. Großwild wie Höhlenbär, Wollnashorn und Mammut standen auf dem Speiseplan ganz oben und wurden über dem Feuer gegart. Mit dem Ende der letzten Eiszeit im Zuge der Neolithischen Revolution vor gut 12.000 Jahren sicherten Ackerbau und Sesshaftwerdung das menschliche Überleben. Die Domestizierung von Wildtieren wie Ziege, Schaf, Rind, Schwein und Geflügel erweiterte das Nahrungsangebot, unterstützte den Acker­bau, verbesserte die Lebensqualität.

Die Nutzbarmachung des Tiers erreichte im Römischen Reich seit dem Ende des ersten vorchristlichen Jahrtausends eine neue Dimension. Diese Ökonomisierung betraf das gesamte Herrschaftsgebiet und wurde für den europäischen, nordafrikanischen und vorderasiatischen Raum prägend. Selbst im straff organisierten Römerreich gelang eine durchgängig ausreichende Kalorienversorgung der Mehrheitsbevölkerung nicht. Das Mittelalter jedoch fiel in Anarchie zurück. Nördlich der Alpen verschwanden staatliche Strukturen, und im Klimapessimum des nasskalten Frühmittelalters gab es in guten Jahren, zumindest für einen Teil der Bevölkerung, bis zu 100 Kilo Fleisch pro Kopf im Jahr.

Entkopplung von Tier und Produkt

Im 10. Jahrhundert erfuhren Wirtschaft und Fleischkonsum einen tiefgreifenden Wandel: Das hochmittelalterliche Klimaoptimum ermöglichte eine Expansion der Getreidewirtschaft. Im 11. Jahrhundert war so eine entscheidende Grundlage für die Städte­gründungen geschaffen. Für die Staaten hatte die Tierhaltung wenig Relevanz, den lokalen Verwaltungen gelang jedoch eine geregelte Professionalisierung: Zahlreiche tierverwertende Handwerksberufe entstanden. Räumliche und zeitliche Ordnungen regelten das Wirken von Schlachtern und Metzgern. In der frühen Neuzeit änderten sich die Strukturen des Fleischverzehrs kaum, die Mengen schwankten aber erheblich. Zwischen 1500 und 1800 ging der Fleischverbrauch von knapp 100 auf rund 16 Kilo pro Kopf und Jahr zurück und löste einen flächendeckenden Proteinmangel aus. Die Verzehrmenge war nun vor allem von sozialen Zugehörigkeiten sowie räumlicher und zeitlicher Verortung (z. B. Konjunkturen) abhängig. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts machte Fleisch zum Alltagsgut breiter Massen. Nach 1850 stieg der Verbrauch und erreichte um 1900 circa 50 Kilo pro Kopf und Jahr. Auflösung des Zunftzwangs und Gewerbefreiheit hatten neue Dynamiken in Gang gesetzt. Steigender Fleischkonsum galt nun in weiten Kreisen der Gesellschaft als Zeichen von Wohlstand und Gesundheit. Schweinefleisch wurde Marktführer, teures Rind, Geflügel und Wild waren ein Privileg der Ober- und Mittelschichten. Speck, Schinken und Würste aus Schweinefleisch bildeten die Basis. Der Kauf von Nahrung ersetzte den Eigenanbau und führte zu einer Entfremdung gegenüber der Lebensmittelerzeugung sowie einer Entkopplung von Tier und Produkt.

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