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Wie ich auf einem Spaziergang Demut lernte

Skulptur von Constantin Brâncuşi, Kunsthaus Zürich, 1955.
Skulptur von Constantin Brâncuşi, Kunsthaus Zürich, 1955.Foto: René Burri/Magnum Photos/Picturedesk
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Ana klappt die langen Flügel ihres Jacketts übereinander, weiter unten verschränkt sie die Arme vor der Kälte, wir schreiten voran. Nur kurz, eine weitere Runde und noch eine weitere, wir sind ja mitten im Gespräch. Über die Kunst und wozu sie einen verleitet.

Zu den unabdingbaren Wohltaten, die ich mir im neuen Jahr gegönnt habe, zählen die Spaziergänge mit der Freundin Ana Silvestru. Es sind erratische Spaziergänge um und durch Zürich, meistens in der Nacht, bei denen wir es schaffen, uns in bekannter Umgebung zu verlieren und sie so immer wieder neu zu entdecken. Wir verabreden uns „nur für kurz“, „wirklich nur für kurz“, denn wir haben beide viel zu tun, ich mit meinem neuen Roman und Ana mit ihren vielen Klavierkonzerten, für die sie unmenschlich viel probt. Sie ist eine hervorragende, international auftretende Konzertpianistin.

Ich war unlängst im Zürcher C.-G.-Jung-Haus, als sie „Le sacre du printemps“ gab, und ein ganzes Orchester hätte nicht tonreicher spielen können. Das Publikum sprang auf, aufgewühlt, „Ich ha denggt, es gäb glii en Orgie“, kommentierte eine alte Dame am Ausgang. So sind Anas Konzerte, auch jene in London, in der marokkanischen Wüste bei Fes, in Japan oder Bhutan, die ich im Stream online verfolge.

Ana klappt die langen Flügel ihres Jacketts übereinander, weiter unten verschränkt sie die Arme vor der Kälte, und wir schreiten voran, nur kurz, eine weitere Runde und noch eine weitere, etwas längere, wenn schon, wir sind ja mitten im Gespräch. Wir gehen zügig, so wie wir auch reden, auf Rumänisch: Das schnelle Reden bedingt den schnellen Gang, das ruckartige Abbiegen in den Gassen, das hallende Lachen, viel zu laut für die späte Stunde. Wir sind begeisterte Zürcherinnen, Bukaresterinnen von Geburt, als Künstlerinnen überall zu Hause. Wie verhält sich die Gesellschaft zur Kunst? Darum kreisen unsere Gespräche.

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