Vorabdruck

Die alte weiße Frau ist noch ein Tabu

(c) Peter Kufner
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Die deutsche Autorin Sophia Fritz schreibt, dass sie sich unwohl dabei fühlt, Frauen Toxizität zu unterstellen oder zu behaupten, dass dieses oder jenes Verhalten „typisch weiblich“ sei. Bei Männern hingegen bereite ihr das keine Gewissenskonflikte. Ein Vorabdruck ihres neuen Buches „Toxische Weiblichkeit“.

Inzwischen sind wir geübt darin, bestimmte Formen von Gewalt und Ungerechtigkeit zu benennen, die Systematik dahinter zu erkennen und uns auch fern der persönlichen Betroffenheit über sie auszutauschen. Sexuelle und körperliche Gewalt sind klar greifbar und verurteilbar und werden statistisch häufiger von Männern ausgeübt. Psychische Gewalt hingegen ist nicht so gut erforscht wie sexuelle oder körperliche Gewalt, obwohl sie nach neuesten Forschungsergebnissen die häufigste Form von Kindesmisshandlung darstellt und die stärksten Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hat.

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Genau wie körperliche und sexuelle Gewalt kann psychische Gewalt keinem Geschlecht zugeordnet werden. Doch im Gegensatz zu den anderen beiden Formen ist für sie keine körperliche Überlegenheit, keine physische Kraft notwendig. Psychische Gewalt wird von Menschen ausgeübt, die eine soziale Machtposition innehaben und von denen andere Menschen (emotional) abhängig sind. Frauen, die in patriarchalen Familienkonstruktionen die Kontrolle über emotionale Bindungen haben, tragen beispielsweise ein erhöhtes Risiko, diese Gewaltform auszuüben, wissentlich oder nicht. Das gilt vor allem in einer Gesellschaft, die diese Form von Gewalt und ihre Auswirkungen noch gar nicht als solche anerkennt.

Toxische Weiblichkeit gibt es

Der negative Einfluss von weiblicher Prägung auf Familie, Freundschaften, Partnerschaften und Arbeitsbeziehungen ist heute noch tabuisiert und kaum erforscht. Während dominanzgeprägtes Auftreten und gewaltlegitimierende Weltanschauungen als toxisch maskulin gelten, werden emotional übergriffige Verhaltensweisen nicht systemisch problematisiert und schon gar nicht als toxisch weiblich bezeichnet.

So beschreibt beispielsweise der Ausdruck „alte weiße Männer“ inzwischen ein bestimmtes Stereotyp, doch alte weiße Frauen Frauen werden weiterhin als Individuen gesehen, deren Eigenschaften und Denkweisen sich scheinbar zufällig überschneiden. Selbst während des Schreibens ist mir unbehaglich zumute, Frauen Toxizität zu unterstellen oder zu behaupten, dass dieses oder jenes Verhalten „typisch weiblich“ sei. Umgekehrt bereitet mir das bei männlich konnotiertem Verhalten keine Gewissenskonflikte. Meine parteiische Hemmung liegt darin begründet, dass ich mich bisher im Protest gegen toxische Maskulinität und das Patriarchat – die böse, schuldige Seite – auf der Gegenseite positioniert habe: Ich war stets Teil des betroffenen, unschuldigen Lagers.

Sobald ich zugebe, dass auch innerhalb meines Lagers Widersprüche und Schattenseiten existieren, dass auch wir unseren Teil zum Fehlen von Gleichberechtigung beitragen, verlieren wir unsere Opfer-Identität – und innerhalb dieser Logik auch das Recht, moralische Ansprüche an die Gegenseite zu stellen. Wir wollen uns unsere Verantwortung nicht eingestehen, weil wir befürchten, die mühsam erkämpften Fortschritte wieder zu verlieren, wenn wir als Folge davon zumindest für mitschuldig erklärt werden. Wenn ich von toxischer Männlichkeit oder toxischer Weiblichkeit spreche, dann meine ich mit Männlichkeit oder Weiblichkeit nicht Männer oder Frauen. Sowohl Männer als auch Frauen als auch nicht-binäre Menschen können toxisch männliche und toxisch weibliche Anteile in sich tragen – wie Andrea Long Chu sagt: „Alle sind weiblich.“ An den Begriffen männlich und weiblich bzw. maskulin und feminin möchte ich deshalb festhalten, weil an ihnen die Binarität unserer soziokulturellen Prägung deutlich wird. Wenn ich ignorant, aggressiv oder empathielos meine Interessen durchsetze, dann ist das ein toxisch maskulines Verhalten, weil es auf den überlieferten Erwartungshaltungen an Männer aufbaut, unabhängig davon, ob ich mich selbst als Mann identifiziere.

Frauen leiden unter Männern und sich selbst

Andersherum kann ein kalkulierendes oder hinterlistiges Verhalten als toxisch feminin bezeichnet werden, da es sich an den überlieferten Erwartungshaltungen an Frauen orientiert. Beiderlei Verhaltensweisen können und werden unabhängig vom Geschlecht ausgelebt. Jeder Mensch trägt das Potenzial für toxisch feminine und toxisch maskuline Qualitäten in sich (,..). Wichtig ist, ob die Person als männlich oder weiblich gelesener Mensch geprägt wurde und dementsprechende Umgangsformen und Verhaltensmuster verinnerlicht hat. Wie gefährlich toxische Männlichkeit sein kann, beweisen andere Bücher als dieses. Männer begehen häufiger Suizid, sterben früher, sind suchtgefährdeter und werden im Falle einer unnatürlichen Todesursache häufiger von anderen Männern umgebracht.

Toxische Weiblichkeit von Sophia Fritz erscheint am 18. März bei Hanser Berlin.
Toxische Weiblichkeit von Sophia Fritz erscheint am 18. März bei Hanser Berlin. (c) Hanser Verlag

Doch während Männer ausschließlich unter ihrer eigenen Prägung leiden, leiden Frauen unter Männern und unter sich selbst. Toxische Weiblichkeit schadet in erster Linie den Frauen. Sie provoziert Manipulierbarkeit, Illoyalität, Verlogenheit, selbstausbeutendes Verhalten und Machtlosigkeit. Der Kapitalismus profitiert von Arbeitsbienchen mit geringem Selbstwertgefühl, von netten Mädchen, die anderen stets zur Seite springen, von unabhängigen Powerfrauen, fürsorglichen Müttern und kostenlosen Care-Arbeiterinnen.

Sie fördern die Produktivität, die Konkurrenz, den Konsum und ermöglichen es Männern außerdem, an ihren Machtpositionen festzuhalten, da Frauen, die sich durch selbstverletzendes Verhalten selbst schwächen, weniger Energie und Fokus für den emanzipatorischen Kampf haben. Soll es in diesem Kampf aber nicht um eine Angleichung der weiblichen Privilegien an die der Männer gehen, nicht nur darum, uns zu er- und andere zu entmächtigen, sondern um ein grundlegend neues gesellschaftliches Miteinander, das auf essenziellen zwischenmenschlichen Werten wie Liebe und Vertrauen beruht, dann müssen wir uns alle toxischen Seiten gleichzeitig anschauen.

Kein Wunder, dass Feminismus Angst macht

Das gesellschaftliche Misstrauen gegenüber Frauen wird nicht abnehmen, indem wir jede Form der Verantwortung von uns weisen und das eigene Selbstverständnis unreflektiert auf dem Mythos der immer unschuldigen, weil strukturell benachteiligten Frau aufbauen. Wir müssen jetzt Verantwortung für die Assoziationen mit dem Begriff toxische Weiblichkeit übernehmen, sodass er in Zukunft nicht von konservativen Gruppierungen oder antifeministischen Männerrechtsbewegungen geprägt werden kann, die sich von der woken Bewegung angegriffen fühlen. Sara Ahmed hat recht, wenn sie sagt: „Kein Wunder, dass Feminismus Angst macht; gemeinsam sind wir gefährlich.“ (...)

Der Begriff der toxischen Weiblichkeit soll nicht als Diagnose oder Vorwurf instrumentalisiert werden, viel lieber möchte ich ihn als Herausforderung, als Mutprobe denken: Wer sich traut, sich seinen eigenen toxischen Verhaltensweisen zu stellen, befreit sich selbst. Do we dare.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Toxische Weiblichkeit“ von Sophia Fritz, das heute, am 18. März erscheint. (© 2024 Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, 191 Seiten).

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Die Autorin

Sophia Fritz (* 1997) hat Drehbuch an der Filmhochschule in München studiert. 2021 erschien ihr Debütroman „Steine schmeißen“. 2022 folgte „Kork“, 2023 die Erzählung „Frankfurter Kranz“ in der Anthologie Glückwunsch. Sie schreibt für „Zeit Online“ und hat eine Ausbildung als Jugendguide für Gedenkstätten, als Sterbebegleiterin im Hospiz und als Tantramasseurin.

Sophia Fritz
Sophia FritzEno de Wit.

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