Leipziger Buchmesse

Schreiben kann ich erst, wenn die Kinder aus dem Haus sind und die Mutter tot ist

Ein Mädchen entwickelt ein untrügliches Gespür für die impliziten Anforderungen seiner Umgebung.
Ein Mädchen entwickelt ein untrügliches Gespür für die impliziten Anforderungen seiner Umgebung. Foto: Jonas Bendiksen/Magnum/Picturedesk
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In der Blüte ihres Lebens ist die Frau umgeben von Menschen, für die sie sorgen, denen sie zu Willen sein muss, von denen sie sich beurteilt fühlt. Führt das Verschwinden von Schlüsselfiguren zur Freiheit?

Kurz vor seinem Tod schrieb der Literaturwissenschaftler Edward Said einen Aufsatz über das Spätwerk von Künstlern. Er teilte sie in zwei Gruppen: Die einen verfolgen den einmal eingeschlagenen Weg ruhig und frohgemut bis zum Ende, während die anderen sich querlegen. Genau in dem Moment, da sie ihr Medium perfekt beherrschen, entscheiden diese Künstler sich für eine eigensinnige, schwierige Route, entfrem­den sich von ihrem Publikum und werden oft nicht mehr verstanden. Said nennt als Beispiele: den Musiker Glenn Gould, der nicht mehr vor Publikum spielen wollte und sich in seinem Aufnahmestudio einsperrte, den Komponisten Beethoven, der in seinem Werk die ausgetretenen Pfade verließ und einen ganz eigenen Weg ging. Said nannte noch weitere Namen, neben Musikern auch Schriftsteller. Lauter Männer. Es gibt vielleicht noch nicht allzu viele Komponistinnen, dafür aber genug Schriftstellerinnen und Malerinnen. Können sie sich in ihrem Spätwerk von festgelegten Mustern befreien, entwickeln sie den Mut, ganz neue Richtungen einzuschlagen?

Um mich auf diesen Vortrag vorzubereiten, besuchte ich eine Retrospektive über die österreichische Malerin Maria Lassnig im Stedelijk Museum. Bereits auf der Treppe wurde der Blick des Besuchers von einem schaurigen Bild angezogen, einem Selbstporträt. Nackt und haarlos sitzt Lassnig da auf einem Sessel, in jeder Hand eine Pistole. Die eine richtet sie auf die Zuschauer, die andere auf ihren eigenen Kopf. „Du oder ich“ heißt das Werk. Ich ging chronologisch an ihren Arbeiten entlang und sah: Lassnig hatte ihr Bestes gegeben, um von den männlichen Kollegen akzeptiert zu werden. Harte Arbeit, keine feste Beziehung, keine Kinder. Am Ende ihres Lebens reißt sie aber das Ruder herum. Jetzt ist ihr egal, was die anderen denken, und sie beginnt eine Serie von „drastischen Bildern“. Es sind große Leinwände: Da kommen die Kinder vor, die sie nie bekam, eine Riesin, die die Türme Manhattans zertrümmert, und der Tod, der ihren Pinsel übernehmen würde. Harte, extrem deprimierende Arbeiten.

„Die Feder ist die Schwester des Pinsels“, sagt Maria Lassnig

Ich begriff, was mit dem ikonischen Bild mit den zwei Pistolen gemeint war: Lassnig stellte die männliche der weiblichen Position gegenüber. Der Mann geht rücksichtslos seinem Ziel entgegen und räumt jeden aus dem Weg, der ihn zu behindern droht. Die Frau zieht sich zurück und tut lieber sich Gewalt an, als dass sie jemandem zur Last fiele. Mord oder Selbstmord. Die drastische Darstellung einer traurigen, von der Malerin so wahrgenommenen Wahrheit. Ich weiß, ich verallgemeinere. Das wird noch schlimmer werden, aber es ist notwendig, um den Gedankengang nachvollziehen zu können. Der Ordnung halber: Es gibt Männer, die keine Mörder sind, und Frauen, die mit Selbstzerstörung nichts am Hut haben. Mir geht es aber um die Struktur der Kunstlandschaft, die großen Linien, und ich lasse die Ausnahmen vorerst links liegen. Ich konzentriere mich auf die Welt der Literatur. „Die Feder ist die Schwester des Pinsels“, sagt Lassnig.

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