Gastbeitrag

Gäbe es morgen kein Erdöl mehr...

Natürlich wünschen wir uns alle, dass die Treibhausgasemissionen sinken. Dennoch sollten wir nicht vergessen, was passieren würde, wenn es morgen kein Erdöl mehr gäbe. Es würden zum Beispiel Millionen von Arbeitsplätzen verloren gehen. Was sonst noch alles anders wäre, erklärt der Generalsekretär der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) in diesem Gastkommentar.

von Haitham Al Ghais

Gäbe es morgen kein Erdöl mehr, hätten wir weder Kerosin, noch Benzin oder Diesel. Autos mit Verbrennungsmotoren, Busse, Lastwagen und Reisebusse würden buchstäblich auf der Strecke bleiben. Mit Kerosin betriebene Flugzeuge könnten nicht mehr abheben. Güter- und Personenzüge, die auf Diesel angewiesen sind, müssten in den Bahnhöfen bleiben. Menschen würden nicht mehr zur Arbeit und Kinder nicht mehr zur Schule gelangen. Die Schiffsindustrie, die sowohl Fracht als auch Passagiere befördert, würde zum Erliegen kommen.

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Notdienste zu rufen wäre sinnlos, da die meisten Krankenwagen, Feuerwehrautos, Polizeiautos, Rettungshubschrauber und sonstigen Einsatzfahrzeuge stillstehen würden. Auch Telefone und Computer, deren Kunststoffteile aus Erdöl hergestellt werden, wären Mangelware, sodass sich bereits die Kommunikation mit Notdiensten als schwierig erweisen würde.

Der Bausektor käme zum Stillstand, da dieselbetriebene Fahrzeuge nicht mehr fahren könnten: Bagger, Planierraupen, Muldenkipper, Kräne, Zementmischer, Walzen und Kompaktlader würden ausfallen. Es wäre nicht möglich, Neubauten zu errichten oder wichtige Wartungsarbeiten durchzuführen. 

Katastrophale Konsequenzen für Gesundheitsdienste

Gäbe es morgen kein Erdöl mehr, wären erdölbasierte Produkte nicht länger verfügbar. Dies würde sich auch auf die Erzeugung von Elektrofahrzeugen (EV) auswirken. Abgesehen von der Unterbrechung der Lieferketten wäre auch die Produktion von Lithium-Ionen-Batterien betroffen. Eine Lithium-Ionen-Batterie besteht aus vier Teilen: einer Anode, einer Kathode, einem Elektrolyt und einem Separator. Separatoren sind mikroporöse Membranen, die in der Regel aus Polyethylen- oder Polypropylenprodukten auf Erdölbasis hergestellt werden. Gäbe es morgen kein Erdöl mehr, könnte der synthetische Gummi, der für Auto- und Fahrradreifen benötigt wird, nicht mehr produziert werden.

Gäbe es morgen kein Erdöl mehr, käme auch die Erzeugung von Lebensmitteln zum Erliegen. Viele landwirtschaftliche Fahrzeuge wie Traktoren, Mähwerke, Mähdrescher, Ballenpressen, Spritzgeräte und Sämaschinen wären nicht mehr funktionsfähig. Verpackungen für die Lagerung und Konservierung von Lebensmitteln könnten nicht mehr hergestellt werden. Petrolkoks, ein Nebenprodukt der Erdölraffination, dient als Rohstoff für synthetische Düngemittel, die für die Steigerung der Ernteerträge wichtig sind. Wäre Petrolkoks nicht mehr verfügbar, würde dies zu einer Verknappung von Nahrungsmitteln mit den entsprechenden Folgen führen.

Gäbe es morgen kein Erdöl mehr, hätte das katastrophale Konsequenzen für die Gesundheitsdienste weltweit. Das Personal wäre nicht mehr mobil und wichtige Materialien wären nicht mehr verfügbar. Doch Erdöl dient nicht nur dem Transport, es ist auch ein wichtiger Rohstoff für Arzneimittel, Kunststoffe und Medizinprodukte.

Prothesen, künstliche Herzklappen, Reagenzgläser

Latexhandschuhe, medizinische Schläuche und Spritzen, Klebstoffe, bestimmte Verbände, Desinfektionsmittel, Handdesinfektionsmittel, Reinigungsmittel, Prothesen, künstliche Herzklappen, Beatmungsmasken, Stethoskope, MRT-Scanner, Insulinpens, Infusionsbeutel, Medikamentenverpackungen, Gesichtsmasken und persönliche Schutzausrüstung werden größtenteils aus erdölbasierten Materialien hergestellt. In der medizinischen Forschung verwendete Geräte wie Mikroskope, Reagenzgläser und Schutzbrillen enthalten in der Regel Bestandteile, die aus Erdöl gewonnen werden.

Die chemische Synthese zur Herstellung von Aspirin geht von Benzol aus, das aus Erdöl gewonnen wird. Das Benzol wird in Phenol und in der Folge in Salicylsäure umgewandelt. Diese wird dann zur Acetylsalicylsäure, die die Welt als Aspirin kennt.

Es ist schwer vorstellbar, dass ein modernes Krankenhaus ohne diese wichtigen erdölbasierten Produkte auskommen könnte.

Gäbe es morgen kein Erdöl mehr, wäre auch die Branche der erneuerbaren Energien betroffen. Die für die Errichtung der meisten Windenergieanlagen benötigten Glasfasern, Harze oder Kunststoffe wären nicht länger verfügbar. Dasselbe gilt für Ethylen, das für die Erzeugung von Solarzellen benötigt wird. Die meisten Bergbaufahrzeuge wie große Lastwagen, Drehbohrgeräte und Gesteinsbohrer zum Abbau der wichtigen Mineralien, von denen die Erzeugung von Photovoltaikanlagen, Windparks und Elektrofahrzeugen abhängt, kämen nicht mehr vom Fleck.

Es wäre schwierig, von A nach B zu gelangen

Gäbe es morgen kein Erdöl mehr, würden sich Wohnbauten bis zur Unkenntlichkeit verändern. So bestünde die Gefahr, dass Dächer einstürzen, die zum Teil aus Bitumen bestehen. Auch andere Materialien, die zur Isolierung von Häusern verwendet werden, wären nicht länger verfügbar. Menschen, die für ihre Heizung auf Öl angewiesen sind, würden im Kalten sitzen. Auch Linoleumböden und Fliesen wären betroffen. Das Streichen der Wände würde zur Herausforderung werden. Viele Möbel, Kissen, Teppiche, Vorhänge, Geschirr, Tassen und Antihaftpfannen, die ebenfalls aus Erdölprodukten hergestellt werden, würden vom Markt verschwinden.

Gäbe es morgen kein Erdöl mehr, wäre es eine Herausforderung, Körperpflege zu betreiben oder die Wohnung sauber zu halten. Wasch- und Geschirrspülmittel werden in der Regel aus erdölbasierten Produkten hergestellt. Seife, Zahnpasta, Handcreme, Deodorant, Shampoo, Rasierschaum, Brillen, Kontaktlinsen, Kämme, Bürsten – sie alle enthalten normalerweise Erdölprodukte.

Es wäre schwierig, von A nach B zu gelangen, da Asphalt, mit dem Straßen und Gehwege gepflastert sind, nicht länger verfügbar wäre.

Gäbe es morgen kein Erdöl mehr, würden Millionen von Arbeitsplätzen verloren gehen. Die Steuereinnahmen würden schwinden. Die industrielle Erzeugung würde einbrechen. Die Wirtschaft würde schrumpfen. Die Lage der von Energiearmut betroffenen Bevölkerungsgruppen würde sich verschlimmern.

Diese Liste der Auswirkungen eines solchen unvorstellbaren Szenarios ist noch nicht einmal vollständig.

Trotz alledem sind verstärkt Rufe wie „Öl stoppen“, „Erdöl im Boden lassen“ oder „Keine Investitionen in neue Öl- und Gasprojekte“ zu hören.

Natürlich wünschen wir uns alle, dass die Treibhausgasemissionen sinken. Die OPEC ist der Meinung, dass technische Lösungen und Effizienzsteigerungen dazu einen wichtigen Beitrag leisten können. Die Ölindustrie ist in dieser Hinsicht bereits aktiv tätig.

Wir müssen uns davor hüten, die Zukunft retten zu wollen, indem wir die Gegenwart gefährden. Es ist wichtig, dass wir uns alle der immensen Vorteile bewusst sind, die Erdöl und die daraus gewonnenen Produkte den Menschen und Nationen weltweit nach wie vor bieten.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

S.E. Haitham Al Ghais (* 1969) ist seit 1. August 2022 Generalsekretär der Opec. Die Organisation erdölexportierender Länder (kurz OPEC, von englisch Organization of the Petroleum Exporting Countries) wurde 1960 gegründet und hat ihren Sitz seither in Wien. 

Beigestellt.

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