Gastkommentar

Im kollektiven Sog gegen den leidenden Gerechten

Peter Kufner
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Alle gegen einen, der aber nimmt das Leiden für alle auf sich: Die Passion Jesu als Lektion der Überwindung von Gewalt.

Schon im Alten Testament gibt es Texte, die auf die Passion Jesu vorausdeuten. Im vierten Gottesknechtslied des Propheten Jesaja ist von einer Erkenntniswende die Rede: Erst richten sich alle gegen den einen, und glauben, dass das richtig ist.

Dieser sieht hässlich aus und scheint von Gott verflucht. Dann richten sich alle gegen sich selbst, weil sie erkannt haben, dass es falsch war, sich gegen den einen gerichtet zu haben. Der leidende Gerechte hat für alle etwas getan, was diese nicht selbst tun konnten.

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Um die Dramatik dieser Erkenntniswende besser zu verstehen, eignet sich die Theorie des Kulturanthropologen René Girard (1923–2015) als Deutungsschlüssel. Dieser geht davon aus, dass es unter Menschen ein mimetisches Begehren gibt. Anders als das Tier ist der Mensch nicht durch Instinkte festgelegt, er ist offen und sucht, was er nachahmen soll.

Jeder will etwas, aber am Anfang weiß er nicht so genau, was genau er will. Das Begehren streift umher. Dann sieht es, was der andere hat – und will es auch. Es entsteht mimetische Rivalität. Konflikte sind programmiert. Die Frage ist, wie eine Eskalation verhindert und das Zusammenleben gesichert werden kann.

Sündenbockmechanismus

Nach Girard wird der Krieg aller gegen alle vermieden, indem sich im Augenblick der Krise alle gegen einen richten. Man braucht ein Opfer, das man für schuldig erklärt. Es muss anders sein und auffallen, damit es als Sündenbock herhalten kann.

Zugleich muss es jemanden geben, der den ersten Stein wirft, sodass sich erst wenige, dann immer mehr und schließlich alle gegen das Opfer wenden. Das Opfer wird als schuldig hingestellt – notfalls durch gezielte Verleumdung, sodass klar wird: Es muss weg. In einem kollektiven Ausbruch der Gewalt wird es beseitigt. Im Nachhinein aber wird der Mord vertuscht – und das Opfer, das die Gewalt aller auf sich gezogen hat, wird postum sakralisiert.

Während nun die Mythen der Völker dem lynchenden Kollektiv recht geben und so tun, als ob das Opfer tatsächlich schuldig ist, deckt die Bibel an vielen Stellen den Sündenbockmechanismus kritisch auf. Darin besteht für Girard ihre aufklärerische Leistung: Nicht das Opfer ist schuldig, sondern das Kollektiv, das das unschuldige Opfer schuldig gesprochen und brutal beseitigt hat!

In den Evangelien wird diese Gewalt exklusiv den Menschen zugeschrieben, nicht aber Gott. Gewaltaffine Vorstellungen von Gott werden so überwunden. Jesus kündigt an, dass er für viele zum Ärgernis werden wird. Und dies bestätigt sich im Verlauf der Passionsgeschichte.

Alle wenden sich gegen den einen. Erst ist es Judas Iskariot, der mit den Zeloten für eine gewaltsame Befreiung vom Joch der Römer eintritt. Aus Enttäuschung über seinen Meister, der auf Gewalt verzichtet, verrät er Jesus für dreißig Silberlinge.

Dann ist es Petrus, der verspricht, Jesus auch dann nicht zu verleugnen, wenn alle anderen an ihm Anstoß nehmen. Aber schon wenig später bricht er sein Versprechen und verleugnet dreimal seinen Herrn. Der kollektive Unmut ist so ansteckend, dass Petrus nicht die Kraft aufbringt zu widerstehen, nicht einmal vor der Magd des Hohenpriesters.

Girard spricht vom „mimetischen Furor“, der alle in seinen Bann zieht. Statt die Verleugnung des Petrus psychologisch als Versagen zu deuten, stellt Girard den Sog des Sündenbockmechanismus heraus. Selbst Petrus findet sich unversehens „auf der Seite der Verfolger“ wieder.

Chor der Verachtung

Bei Pontius Pilatus, dem römischen Statthalter, lässt sich ein ähnlicher Umschwung beobachten. Zunächst ist er von der Unschuld des Nazareners überzeugt und will ihn freigeben. Aber auch er gibt der Skandalisierung nach, als er sieht, dass die Menge sich nicht beruhigen lässt. Sein Versuch, Jesus am Rüsttag vor dem Paschafest zu begnadigen, scheitert.

Die Menge will nicht den Nazarener, sondern den Verbrecher Barabbas befreit sehen. Als Pilatus mit dem anschwellenden Ruf „Kreuzige ihn“ konfrontiert ist, gibt er nach. Die Wahrung der Macht ist ihm wichtiger, als einen Unschuldigen vor dem Tod zu bewahren. Das Wort des Kajaphas hat den Zynismus offengelegt: „Es ist besser, dass ein einziger Mensch für das Volk stirbt.“

Im Matthäus-Evangelium interveniert die Frau des Pilatus: „Lass die Hände von diesem Mann, er ist unschuldig. Ich hatte seinetwegen heute Nacht einen schrecklichen Traum“ (Mt 27, 19). Pilatus folgt dieser Warnung nicht. Er wäscht zwar demonstrativ seine Hände in Unschuld, gibt aber den Befehl, Jesus zu geißeln und zu kreuzigen.

Die schaulustigen Leute, die Hohenpriester und Schriftgelehrten kommen zur Schädelhöhe und höhnen, Jesus solle als Messias und König von Israel doch selbst vom Kreuz herabsteigen. Am Ende stimmen selbst die beiden Schächer in den Chor der Verachtung ein. Sie erheben sich über den Mitgekreuzigten – ein fragwürdiger Triumph.

Ein Gegenzeugnis

Nur im Lukas-Evangelium durchbricht einer der beiden Schächer den Furor und bekennt: „Uns geschieht recht, wir erhalten den Lohn für unsere Taten; dieser aber hat nichts Unrechtes getan“ (Lk 23, 41). Das ist ein Gegenzeugnis, das dem Sog der Ansteckung widersteht und dem reumütigen Schächer das Paradies einbringt.

Gewiss kann man fragen, ob Girard das christliche Verständnis des Opfers voll eingeholt hat oder ob seine Deutung der Passion nicht antijüdisch konnotiert ist. Aber deutlich stellt er heraus, wie die soziale Dynamik sich gegen Jesus richtet und sogar verfeindete Gruppen darin übereinkommen, dass er an allem schuld sein muss.

In der Bibel wird diese universale Allianz gegen Jesus ausdrücklich betont: „Wahrhaftig, verbündet haben sich in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels“ (Apg 4, 27). Die verfeindeten Repräsentanten der Macht, Pilatus und Herodes, werden am Tag der Verurteilung Jesu Freunde.

„Gewaltige Gewaltlosigkeit“

Das Kreuz ist, wie Girard notiert, „jener Augenblick, da die zahllosen mimetischen Konflikte, die zahllosen Ärgernisse, die während der Krise heftig aufeinanderprallen, sich finden und gemeinsam Front machen gegen Jesus. An die Stelle der Mimetik, die die Gemeinschaft spaltet, fragmentiert und auflöst, tritt eine andere Mimetik, die sämtliche Skandalisierten gegen ein einziges und alleiniges Opfer versammelt und eint, dem die Rolle des allgemeinen Ärgernisses zugeteilt wird.“

In der Vereinigung aller gegen einen findet punktuelle Befriedung statt. Der eine aber nimmt das Leiden für alle auf sich, ohne sich zu wehren. Schon beim Letzten Abendmahl nimmt er sein Leiden vorweg, wenn er das Brot bricht und sich damit identifiziert: „Dies ist mein Leib für euch.“ Jesus verzichtet darauf, Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten. Noch sterbend bittet er für seine Peiniger um Vergebung. Diese „gewaltige Gewaltlosigkeit“ Jesu gibt gerade heute neu zu denken.

DER AUTOR

Jan-Heiner Tück (* 1967 in Emmerich, Deutschland) ist Professor am Institut für Systematische Theologie und Ethik der Universität Wien. Schriftleiter der Zeitschrift „Communio“. Zahlreiche Publikationen. Lebt in Wien. 

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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