Eco-Insider

Gewerkschaftliche Horrorgeschichten über die Maastricht-Kriterien

Oliver Grimm
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Oliver Grimm
"Die Presse"-Korrespondent in Brüssel

Oliver Grimm
 

Am Montag hat es mich beim Studium der belgischen Presse kurz gerissen. „Budgetregeln: Belgien nicht im Stande, seine Schulen und Spitäler zu finanzieren“, brüllte mir das Titelblatt der wichtigsten französischsprachigen Zeitung des Landes, „Le Soir“, entgegen. Schuld an dieser Katastrophe, so las ich weiter, sei die EU. Genauer: der erst im Februar von den Verhandlern des Rates und des Europaparlaments beschlossene neue „Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung“, der unter anderem die hinlänglich bekannten Maastricht-Regeln für Defizit und Staatssschuldenquote beinhaltet.

Oh dear, dachte ich mir. Habe ich da eine große Nachricht verpasst? Denn mehr und mehr Medien berichteten von diesem angeblich fatalen neuen Teufelswerk der EU, welches es praktisch allen EU-Staaten verunmöglichen werde, ihre Sozialsysteme aufrecht zu erhalten, und in den Klimaschutz zu investieren.

Doch schnell klärte sich, woher der Wind weht. Der Europäische Gewerkschaftsbund (ETUC) hatte eine Studie ein Thesenpapier mit dem angriffslustigen Titel „Fiskalregeln stoppen neue Schulen und Spitäler“ veröffentlicht. Der hatte nicht nur den Kollegen von „Le Soir“ so gut gefallen, dass sie ihn praktisch 1:1 auf ihr Titelblatt übernahmen. Doch bei Durchsicht des Papiers zeigt sich rasch, dass hier der Wunsch Vater der Schlussfolgerung war. Die Autoren geben das sogar offen zu: „Das Papier werde die neuen EU-Fiskalregeln untersuchen, … um zu zeigen, dass sie ungenügend sind, um die sozialen und Umweltziele der EU zu erreichen.“

Nu, wenn schon vorab klar ist, was das Resultat sein soll, wozu dann all die vergossene Tinte? Zumal die inhaltliche Kritik am neuen Rahmen für die Stabilität der europäischen Staatshaushalte sehr mager ist. Seitenlang wird dargelegt, wie wichtig Investitionen in Bildung, Gesundheit, Umwelt- und Klimaschutz sind, wogegen kaum jemand vernünftig begründeten Widerspruch einlegen würde.

Erst ganz, ganz weit hinten, auf Seite 13 von 22, steht das Ergebnis dieser Erörterungen: „Wir sehen, dass alle Staaten, welche die Fiskalgrenzen verletzen, unfähig wären unsere minimalen Schätzungen für Sozialausgaben zu erfüllen. Das ist so, weil die Mehrheit auf Referenzpfaden wäre, die es erfordern, dass sie ihre Defizite kürzen, and darum müssten solche Investitionen durch weitere Kürzungen oder erhöhte Besteuerung finanziert werden.“

Potzblitz, welch‘ tiefe Erkenntnis: wenn man hoch verschuldet ist, kann man sich Neues nur leisten, indem man anderswo spart, oder neue Einnahmequellen eröffnet. Nicht, dass die europäischen Gewerkschafter ein Problem mit Letzterem hätten. Sie fordern in ihrem Papier auch eine EU-weit einheitliche Körperschaftsteuer „von mindestens 25 Prozent“, flächendeckende Vermögenssteuern und eine Synchronisierung der Kapitalertragssteuer mit der Einkommenssteuer. All das würde phänomenale Milliardeneinnahmen in die Staatskassen spülen, sind die Autoren überzeugt – unbelastet vom Zweifel, ob all diesen bösen Konzerne und gierigen Bonzen denn wirklich in der EU ansässig blieben, wenn es überall 25 Prozenz KöSt und Vermögenssteuer hagelt (der bisher letzte sozialistische Präsident Frankreichs, François Hollande, hat das mit der Reichensteuer bekanntlich versucht und im Lichte der betrüblichen Evidenz rasch wieder beendet, bevor er aus dem Amt war).

Natürlich kann und soll man über all diese Fragen ergebnisoffen diskutieren. Die Europäische Kommission hatte in ihrem ursprünglichen Vorschlag für diese reformierten Fiskalregeln unter anderem angeregt, dass „gute“ Staatsausgaben (zum Beispiel für Klimatechnologie, Verkehrsinfrastruktur, Forschung und so weiter) aus dem Maastrichtdefizit herausgerechnet werden können. Aus gutem Grund jedoch hat diese Idee nicht überlegt. Man stelle sich den Basar der Finanzminister vor, die einander vortanzen, welche ihrer staatlichen Ausgaben „grün“, „sozial“ und „innovativ“ und deshalb nicht maastrichtrelevant sind.

Jedenfalls ist es betrüblich, dass Europas Gewerkschaftern auch im vierten Jahrzehnt der Wirtschafts- und Währungsunion zum Thema „stabile Staatsfinanzen“ nichts anderes einfällt, als die Maastricht-Kriterien als (Zitat) „ökonomisch unbegründet“ wegzuwedeln. Wenn die 60-Prozent-Grenze für die Schuldenquote, und das jährliche Drei-Prozent-Limit für das Defizit so sinnlos sind: wieso hat dann kein Finanzminister (mit Ausnahme des griechischen Irrläufers Yanis Varoufakis vor zehn Jahren) sie jemals radikal abzuschaffen gefordert? Willkürlich mögen diese starren Werte erscheinen. Aber erstens gibt es auch künftig allerlei Ausnahmen und Fristerstreckungen, die ihre Einhaltung leichter verdaulich machen. Und zweitens sind solche klaren Zielwerte die Grundlage dafür, dass sich 27 Finanzminister wenigstens ansatzweise über Grundzüge nachhaltiger Fiskalpolitik verständigen können.

Man darf freilich erwarten, dass diese Gewerkschaftsstudie in den nächsten zwei Wochen noch mehrere Runden durch den Blätterwald drehen wird. In der letzten Plenarsitzung des Europaparlaments von 22. bis 24. April werden die neuen Fiskalregeln nämlich abgesegnet werden. Da werden es sich manche Abgeordnete nicht nehmen lassen, gleich schnurstracks in die Kampagne für die Europawahl am 9. Juni abzubiegen. Und Wahlkämpfe sind bekanntlich nur selten Zeiten konstruktiver Debatten.

Eine erfolgreiche zweite Wochenhälfte wünscht Ihnen

Oliver Grimm

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