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Frieden ist nicht lächerlich

Pro-Palästina-Demonstration in Lissabon im April 2024.
Pro-Palästina-Demonstration in Lissabon im April 2024.Armando Franca/Picturedesk
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Unser Autor, der Schriftsteller Dinçer Güçyeter, über eine erschütternde Begegnung mit einer jüdischen Leserin: Du hast für uns alle getrauert, für Juden, Moslems und Christen.

Auf meiner Lesereise in Heppenheim sind wir uns begegnet. Die Gäste im Saal ließen sich ihre Bücher signieren und verließen nach und nach den Saal. Beim Signieren sah ich dich mit meinem rechten Auge, du standest an der Wand mit einem vergilbten Tüll vor deinen Augen und wartetest. Erst als der Saal leer war, kamst du mit langsamen Schritten zu mir. Wolltest dein Buch mit deinem Lieblingssatz aus dem „Deutschlandmärchen“ signiert haben, mit Worten der Griechin Zeynep:

„Zwischen uns liegen Meere/Berge, aber weißt du, Fatma, deine und meine, unsere Geschichte ist aus der gleichen Wunde geschnitzt, deshalb sind wir Geschwister.“

Es war kurz nach dem Terrorangriff der Hamas auf israelische Bürger:innen. „Ich bin Jüdin“, sagtest du, „ich weiß nicht, wohin mit mir“, sagtest du. In deiner zittrigen Stimme wieherte ein verwundetes Einhorn. „Dieses Verbrechen muss aufhören, sonst bleibt diese Last lebenslänglich“, sagtest du.

Ich stand auf, wir umarmten uns. Jedes Wort von mir wäre zu viel gewesen. Die Unschuld deiner Trauer flüsterte mir alle Gesänge aus dem Balkan, aus Anatolien, aus dem ganzen Osten ins Ohr.

„Hava ist mein Name“, sagtest du. Hava, die Mutter aller Lebewesen.

In der Nacht ging ich mit deinen Worten ins Bett, dachte, wie belanglos meine Literatur vor deiner edlen Trauer stand. Ich schrieb Tausende Seiten, um meine Wunde zu verstehen, du hattest die Kraft, mit einem Satz uns alle zu umarmen: „Dieses Verbrechen muss aufhören.“

Du hast für uns alle gesprochen, für uns alle getrauert, für Juden, für Moslems, für Christen. Seitdem sind fünf ganze Monate vergangen, liebe Hava. Ich denke oft an dich, an deine Worte, an deinen trostlosen Blick.

Heute suchen wir nach alten Ufern

Jetzt, nach Monaten, verfolge ich die Kapitulation der Würde in Kolumnen, Tweets und Nachrichten. Wann haben wir angefangen, den Verlust, die Trauer, den Schmerz nach Religion und Herkunft zu sortieren? Wann haben wir aufgehört, über das Leid der anderen, die nicht zu unsereins gehören, zu schweigen? Was ist das für eine Angst, die uns das Gesicht im Spiegel so abblättern lässt? Welche Rolle spielt die Religion hinter einem Elend, das die jungen Generationen mit ihrem Gift anstecken wird? Seit Jahren reden wir über eine neue Welt, über Vielfalt, über ein Zusammenleben. Heute rudern wir zurück und suchen nach alten Ufern, die neue Gespräche, eine neue Vereinigung unmöglich machen. Ich frage mich, wie dünn und zerbrechlich war das Glas, aus dem wir unser Wasser getrunken haben? Was ist das für eine Wut, ein Hass, eine Haltlosigkeit, Menschen, die für Frieden auf die Straße gehen, auf den Bühnen für Frieden sprechen, für Menschen auf beiden Seiten ihre Solidarität bekunden, zu beleidigen, ihre Arbeit und ihre Kunst zu disqualifizieren? Im Fußball würde man von Hooligans sprechen, die in den Fanatismus verfallen und nach Gegnern suchen. Dieser Gewalttrieb hat weder mit der Liebe zur eigenen Mannschaft noch mit der Ethik des Sports zu tun.

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