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Es gibt nicht nur Stolpersteine, es gibt auch Stolpertexte: Tara Meister erinnert an eine jüdische Aktivistin

Erinnern ist ein Prozess der Gegenwart.
Erinnern ist ein Prozess der Gegenwart.Clemens Fabry
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Für die „Stolpertexte“ suchte ich nach jüdischen Frauen, die aktivistisch engagiert waren. Ich fand Helen Bilber, von der ich nun erzähle, und meine Großmutter hört zu, die Augen halb geschlossen, vielleicht blendet das Sonnenlicht.

Frühling vor einem Jahr. Wir sitzen im Garten, die ganze Familie ist beisammen, mein Vater zeigt uns seine Blumen, Pfingstrosen und Begonien, das tränende Herz, Akeleien, Rhododendron, Klematis, Lichtnelken, Schwertlilien und Flieder.

Ich erzähle meiner Großmutter, die neben mir am Tisch sitzt, von dem Projekt, bei dem ich mitmachen werde, von den „Stolpertexten“. Ich erzähle ihr, dass ich im Archiv nach jüdischen Frauen gesucht habe, die aktivistisch engagiert waren. „Aber wie wählt man eine aus?“, frage ich sie. Wie entscheidet man sich, von einer Geschichte zu erzählen und andere liegen zu lassen? Ich erzähle von Helen Bilber, von der ich einen Bericht gefunden habe, und meine Großmutter hört zu, die Augen halb geschlossen, vielleicht blendet das Sonnenlicht.

„What is Vienna?“

So beginnt Helen Blank, vor dem Krieg Helen Bilber, geboren 1917, ihren Aufsatz über ihre Kindheit und Jugend in Wien. Der Text ist schreibmaschinengetippt und elf Seiten lang, er ist alles, was ich im Archiv zu ihrer Person finde. Ich lese ihn erneut auf der dunkelgrün bezogenen Sitzbank im Café West­end, einem Altwiener Café am Gürtel. Die Decken sind hoch, jemand bekommt Apfelstrudel mit Vanillesauce, der alte Flügel steht unberührt, aber am Nachmittag wird sich dort jemand hinsetzen und spielen. Vielleicht Strauß, vielleicht etwas Modernes.

Helen Bilber kommt als Kind eines jüdischen Unternehmers zur Welt, verbringt die ersten Jahre in wohlhabendem Hause an der Grenze zum Arbeiterbezirk Ottakring. Als die Firma des Vaters bankrottgeht, er die Familie verlässt und sie mit Mutter und Schwester zurückbleibt, wird sie plötzlich auch zum Kind der Arbeiterklasse.

Bälle und Schubert auf der einen, Aktivismus auf der anderen Seite

Sie erzählt in ihrem Text von den Zwanzigern, von der Stimmung in einer neuen Republik und von den demokratischen Reformen. Wie sie gefördert wurde als Kind einer mittellosen, alleinerziehenden Mutter und eine weiterführende Schule besuchte, die erste Geige im Orchester spielte. Wie sie der sozialdemokratischen Schülervereinigung beitrat, wie sie in beiden Welten lebte, Bälle und Schubert auf der einen, Aktivismus auf der anderen Seite.

Sie schreibt: „Wir sangen unsere Lieder.“

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