Die Rechtsfindung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat Euphorie ausgelöst. Eine kritische juristische Analyse sieht anders aus. „Kelsen, schau oba!“, will man rufen. – Ein Gastkommentar.
In Österreich wird Hans Kelsen als Heiliger verehrt. Das mag dem katholischen Habitus unseres Landes geschuldet sein. In der Präsidentschaftskanzlei wurde eine Art „Kapelle“ eingerichtet (das „Kelsen-Zimmer“), in der eine Büste des Meisters zur Andacht einlädt. Es steht zu vermuten, dass der Bundespräsident sich mitunter dorthin zurückzieht, um in stillem Gedenken über die Eleganz der österreichischen Bundesverfassung tiefsinnig zu werden.
Als Hans Kelsen noch nicht zu den Verewigten gehörte, war er der prononcierteste Kritiker jedweder Rechtswissenschaft, die Recht und Moral vermengt. Seine Lehre war ein Frontalangriff auf alle, die für Recht hielten, was ihrem eigenen moralischen Empfinden entsprach, ohne zu ergründen, ob das, was ihnen gefiel, sich auch juristisch ableiten ließ.