Gastkommentar

Zu früh aufgeben sollte man Europa nicht

Peter Kufner
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Vorabdruck. In jeder Krise liegt eine große Möglichkeit. Das 21. Jahrhundert kann noch sehr überraschend zu einem neuen amerikanisch-europäischen Jahrhundert werden. Die Alternativen jedenfalls sind schlechter.

Die Aggression eines autokratischen und totalitären Führers wie Putin hat viele demokratische Politiker überrascht. Man traute es ihm nicht zu, weil man die Psychologie und die Mechanismen des eigenen demokratischen Handelns auf den Führer eines autokratischen Systems übertrug. Ein Fehler, den die demokratische Welt im Umgang mit nicht demokratischen Systemen und ihren Despoten immer wieder gemacht hat. Im Iran, im Irak, in Syrien, in Saudiarabien, in Gaza und natürlich vor allem in China. Jetzt, da das Undenkbare geschehen ist, hält man auch das bisher Unmögliche für möglich.

Plötzlich wird klar, dass China mit Taiwan so umgehen könnte wie Putin mit der Krim. Und dass genau wie in Russland dies nur der erste und nicht der letzte Schritt sein könnte. (…) Der russische Krieg und der Terrorkrieg der Hamas in Israel sind nur Stellvertreterkriege für den wahren Konflikt zwischen den USA und China. Es geht um die Schwächung der demokratischen Weltmacht Amerika. Es geht um die systematische Unterminierung der Demokratie. Putins Krieg und der Terror der Hamas wurden so zur letzten Warnung, zum potenziellen Katalysator eines großen konzeptionellen Umdenkens. Eine neue wertebasierte Außen-, Sicherheits- und Handelspolitik ist in dieser Lage kein idealistisches Projekt. Es ist eine strategische Notwendigkeit für den Fortbestand der Demokratie.

Es passiert so viel gleichzeitig

Die Weltordnung erinnert dieser Tage eher an eine Dystopie. Freiheit und Demokratie werden durch Kriege, Diktatoren, Autokraten, Populisten und führungsschwache Politiker der offenen Gesellschaften bedroht, eine immer intoleranter werdende Toleranzbewegung, die unter dem Schlachtruf „Woke“ einen Kulturkrieg führt, und immer mehr freiheitsbeschränkende Methoden im Kampf gegen Klimawandel und Pandemie verstärken diesen Trend.

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Das Besondere an der gegenwärtigen Lage ist die Kumulation der Faktoren. Mit zwei Kriegen, mit einer Rezession, mit einer Inflation, mit einer Pandemie, selbst mit langfristigen Herausforderungen wie dem Klimawandel an und für sich kommt eine moderne Gesellschaft zurecht. Schwieriger wird es, wenn all das gleichzeitig passiert. Es herrscht ein Gefühl der Überforderung, der Unordnung, der Entfremdung, der Bedrohung. Gereiztheit, Polarisierung, Abgrenzung und Ausgrenzung sind die Folgen. Wir erleben eine große Abstoßung. Die eine Gruppe stößt die andere ab, jeder stößt den jeweils anderen ab. Das Individuum steht im Vordergrund einer zunehmend narzisstischen Instagram-Ich-Gesellschaft. Bauernproteste in Deutschland erinnern an Aufstände, die in den vergangenen Jahrhunderten zu Regierungs- und Systemwechseln geführt haben. Große Volksparteien verlieren an Rückhalt.

Überhaupt findet eine Entzauberung großer Institutionen statt. Gewerkschaften, Kirchen, NGOs, große Traditionsunternehmen verlieren an Bedeutung und Charisma. Etablierte Medienmarken verschwinden, und die verbliebenen haben die Autorität, darüber zu entscheiden, was wichtig ist und was weniger, weitgehend verloren. Viele altehrwürdige journalistische Marken bemühen sich, den Zerfall der Demokratie mit aller Kraft zu verhindern, und agieren dabei oft so einseitig und aktivistisch, dass sie den Zerfall beschleunigen. Gleichzeitig gewöhnt sich die Gesellschaft daran, dass die finanziellen Konsequenzen großer Krisen durch staatliche Hilfen abgefedert werden. Riesige staatliche Hilfspakete mildern die brutalen Kräfte des Markts weitgehend ab. Die Bürger gewöhnen sich so schleichend an eine neue Form von staatlich gesponsertem Kapitalismus. Auch wenn es in der Ausprägung noch nicht vergleichbar ist: Letztlich klopft so leise das chinesische Modell des Staatskapitalismus an amerikanische und europäische Türen. Wie ein Sedativ wirkt in dieser Lage, dass die alte Regel nicht mehr gilt, nach der eine Rezession mit hoher Arbeitslosigkeit einhergeht. Der massive Fachkräftemangel, die „große Arbeiterlosigkeit“ führt dazu, dass eine tiefe Rezession bei Vollbeschäftigung denkbar ist. Dieses neue Phänomen vernebelt den Ernst der Lage zusätzlich.

Stütze vom Staat

Der Abstieg westlicher Volkswirtschaften lässt sich im Homeoffice mit sicherem Arbeitsplatz und Stütze vom Staat recht komfortabel ertragen. All das ist beunruhigend. Und doch liegt auch in dieser Krise eine große Möglichkeit. Es scheint, als stehe die offene Gesellschaft an einer Weggabelung. Alles ist denkbar. Das, was wir erleben, kann der Anfang vom Ende der freien Demokratien sein. Oder der Beginn einer Besinnung. Der Anfang einer Ära der Erneuerung und Stärkung der offenen Gesellschaft. Beides ist möglich. Es liegt in unserer Hand. Die Weltordnung der letzten 75 Jahre löst sich in Hochgeschwindigkeit auf – getrieben von führungsschwachen Demokratien und immer stärker werdenden Populisten, Autokraten und Diktatoren.

Das ist – kann man sagen – der Lauf der Dinge. Im freien Spiel der Kräfte und des Wettbewerbs geht es für alle Beteiligten einmal rauf, einmal runter. Wenn seit dem 19. Jahrhundert die europäische Feudalgesellschaft sich als zu schwach erwiesen hat und amerikanische Me­ritokratie einfach erfolgreicher als europäische Aristokratie war, dann ist das nur fair. Und dann sollte man das akzeptieren. (…) Es ist die vielleicht einzige wirklich überparteiliche Gewissheit: Die Rolle Chinas ist gefährlich. Während die USA beschlossen haben, sich von China abzukoppeln, zögert Europa noch. Ursula von der Leyens „Derisking“-Ansatz versucht, wirtschaftliche Interessen und nationale Sicherheitsbedenken auszugleichen. Aber das wird nicht genügen. Es braucht ein neues, umfassenderes Modell. Im globalen Spiel der Kräfte werden jetzt neue oder alte Allianzen geschmiedet oder vertieft oder zerstört. Allein wird es Amerika nicht schaffen, ohne langfristig erheblichen Schaden zu nehmen. Die Hybris eines amerikanischen Alleingangs nach dem Motto „America first“ oder „America only“ ist der sichere Weg in die Isolation mit unvermeidbarem Bedeutungsverlust. Genauso gilt allerdings: Einen europäischen Sonderweg gibt es auch nicht. Ob man manche Allüren und Umständlichkeiten der Europäer mag oder nicht: Die beiden Kontinente sind als Kraftzentrum einer demokratischen und freien Gesellschaftsordnung schicksalshaft aufeinander angewiesen. Es gibt in dieser Frage keinen Raum für die Souveränität einzelner Nationen. Es kann nur um eines gehen: die Souveränität der Demokratie. Die amerikanischen (Vor-)Urteile gegenüber der EU sind bekannt und zum Teil berechtigt. Zu früh aufgeben sollte man Europa aber nicht.

Der Kontinent der Vielfalt, des Ideenwettbewerbs, des intellektuellen Eigentums, der Nachhaltigkeit, vor allem aber der freiheitlichen (…) Lebensformen könnte für junge Menschen zum Hoffnungsort werden – „the European way of life“ als Modernisierungsmagnet. Ich wünsche mir diesen Aufbruch – und glaube: Das 21. Jahrhundert kann noch sehr überraschend zu einem neuen amerikanisch-europäischen Jahrhundert werden. Die Alternativen jedenfalls sind schlechter.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem neuen Buch „Der Freiheitshandel“.

Reaktionen: debatte@diepresse.com

Zum Autor

Max Threlfall

Mathias Döpfner (*1963) ist Verleger und seit 2002 Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE, zu der u.a. „Bild“, „Welt“ und „Politico“ gehören. Heute erscheint „Der Freiheitshandel“ im Plassen-Verlag, 190 Seiten, 25,60 Euro.

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