Gastkommentar

Die EU und Russland: Der Preis der Entfremdung

Peter Kufner
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Können wir uns Russland überhaupt vorstellen ohne eine wirtschaftliche und humanitäre Verflechtung mit dem Rest Europas?

Solang ich mich erinnern kann, hat man uns Russen Folgendes von allen Tribünen der Macht aus versichert – den sowjetischen Tribünen und später den russischen Tribünen: dass das bürgerliche Europa „untergeht“, dass es „seinen letzten Atemzug macht“. Man hat uns gepredigt, Europa sei dabei, seine politische, wirtschaftliche und kulturelle Existenz zu beenden, und zwar mit all den Werten, für die es bei uns berüchtigt sei.

Aber trotz dieses prophezeiten Verfalls hatte Europa aus irgendeinem Grund immer genügend Verlangen und Kraft dazu, Russland andauernd zu schaden und seine Entwicklung auf jede erdenkliche Weise zu behindern. Wenn man der Redekunst unserer Politiker, Politologen und anderer Kämpfer im Informationskrieg gegen den „kollektiven Westen“ nach urteilt, so ist Russland selbst eine „besondere Zivilisation“ und nicht Europa. (Ich möchte hier daran erinnern, dass ein Teil unseres Landes, von unserer Westgrenze bis zum Ural, schon aus geografischer Sicht zu Europa gehört. Aber hier geht es natürlich nicht um geografische Fragen.)

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Ich selbst bin jedenfalls fest vom europäischen Wesen des modernen Russland überzeugt, vom europäischen Vektor seiner historischen Entwicklung. Können wir uns Russland überhaupt vorstellen ohne eine wirtschaftliche und humanitäre Verflechtung mit dem Rest Europas, die doch für beide Seiten von Vorteil ist? Natürlich kann man auch von der EU sagen, dass sie im Kampf gegen ihre eigenen wirtschaftlichen Probleme bisher nicht sonderlich erfolgreich gewesen ist – gelinde gesagt. Bis heute gibt es keinen akzeptablen Weg für Millionen von Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten, die sich in die EU-Länder integrieren sollen, denen aber europäische Werte oftmals fremd sind. Ganz zu schweigen von den erstarkenden separatistischen Strömungen, vom zunehmenden Nationalismus. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass auch unsere aktuellen „Experten“ in Russland heute voller Begeisterung den unabwendbaren Zusammenbruch der EU vorhersagen, dass sie „soziale Stürme“ und Verwüstungen für den gesamten „kollektiven Westen“ voraus­sehen.

Seltsam jedoch wirken all diese Ausbrüche von Schadenfreude. Ist es denn so, dass es denen in Russland umso besser geht, wenn es jenen in Europa immer schlechter geht? De facto ist das überhaupt nicht so. Wenn man die Sache nüchtern betrachtet, müssen Russland und die EU beide an einer Zusammenarbeit in allen möglichen Bereichen interessiert sein, sei es in der Wirtschaft, der Politik, der Kultur, sei es in der Wissenschaft.

Ob die Verfechter einer antieuropäischen Position in Russland ernsthaft an den Zusammenbruch der EU glauben? Ich kann es nicht beurteilen. Aber Achtung: Die Schadenfreude in Russland über die Probleme und Fehlschläge in den EU-Ländern ist oft gekoppelt mit Reden über die seit Putin gepriesenen „spirituellen Bindungen“ und über unsere vielfältigen Erfolge.

„Made in Russia“

Wissen Sie, wie ich herausfand, dass ich ein wahrer Patriot bin? Einmal, während einer Geschäftsreise nach New York, ging ich in ein Modegeschäft. Ich wollte mir eine echte amerikanische Jacke kaufen. Es gab natürlich mehrere zur Auswahl, und ich entschied mich für die meiner Meinung nach coolste Variante. Und als ich mir das Etikett ansah, war ich sehr überrascht. „Made in Russia“ stand darauf!

Es gibt auch einen beredten Moment aus meinem Leben zur Frage, worin denn die Diskrepanz zwischen den Werten Europas und Russlands besteht. Vor vielen Jahren studierte ich an der Moskauer Staatlichen Universität. Einmal versammelten sich dort die Vorsitzenden der regionalen Parlamente, und sie begannen, über die Diskrepanz zwischen Werten Europas und Russlands zu sprechen. Ein hochrangiger Beamter hielt einen Vortrag. Darin behauptete er, dass Europa uns seit Jahrhunderten feindlich gesinnt sei und dass es heute seinen moralischen Kompass verliere. Dagegen erklärte er, dass Russland seinen moralischen Kompass fest im Griff habe. Der Vortrag war zu Ende, und die Zeit für Fragen und Antworten begann. Einer der Zuhörer meldete sich – ich glaube, er war aus Baschkirien. Er bat darum, wenigstens drei konkrete Werte zu benennen, bei denen sich Russland – damals die Sowjetunion – und Europa unversöhnlich gegenüberstünden.

Es stellte sich heraus, dass diese Frage nicht so einfach zu beantworten war. Der erste Wert, den der hohe Beamte nannte, das waren gleichgeschlechtliche Ehen. Über den zweiten Wert musste er lang nachdenken. Dann fantasierte er irgendetwas über „Euthanasie“. Danach fiel ihm nichts mehr ein. Damals fragte ich mich: Sind wir etwa wirklich wegen dieser zwei Unterschiede zur ewigen gegenseitigen Entfremdung verdammt?

Heute finde ich: Es ist eine Schande, eine Schande sowohl für Russland wie auch für Europa, dass wir uns mit gegenseitigen Vorwürfen und Verdächtigungen beschäftigen. Es ist eine Schande in einer Zeit, in der unsere sündige Welt klimatischen Bedrohungen gegenübersteht, die wir nur gemeinsam bekämpfen können. Und ich spreche nicht einmal von der geopolitischen Situation, die immer mehr an den Kalten Krieg aus der Zeit vor der Perestroika erinnert.

Dabei konnte man die damalige Art der Konfrontation – eben diesen Kalten Krieg – noch eher verstehen, womöglich sogar rechtfertigen. Damals standen sich zwei Welten gegenüber, zwei absolut unvereinbare politische Systeme. Aber ist es nicht eine Schande, dass wir jetzt wieder eine Konfrontation zwischen Russland und der EU erleben, obwohl die Ideologie des totalitären Kommunismus untergegangen ist?

Es ist eine Schande

Dennoch ist es wichtig, dass wir uns über Folgendes im Klaren sind: Europa und Russland sind zur Zusammenarbeit verdammt, weil sie aus demografischer Sicht zwei verschwindend kleine Einheiten auf unserer Erde sind. Falls wir auf diesem Erdball, der von Amerikanern und Chinesen dominiert wird, ein mehr oder weniger bedeutender Akteur sein wollen, müssen wir zusammenhalten.

Kommen wir zu den wahren Werten, die das moderne Russland zweifellos braucht. Das sind natürlich auch Freiheit und Gerechtigkeit. Aber, Pardon, die EU ist heute womöglich der Ort auf der Welt, an dem diese Werte am besten verwirklicht werden. Im Vergleich zu anderen Regionen der Welt bieten die europäischen Gesellschaften das humanste soziale Umfeld, ob wir nun die individuellen Menschenrechte betrachten oder den materiellen Wohlstand. Wie dem auch sei, Russland wird es garantiert nicht besser gehen, wenn es sich von den Rechten abwendet, für die unser damaliger Staatschef Michail Gorbatschow das Prinzip universeller Gültigkeit postuliert hat.

Eines aber ist klar: Die drastische Verschlechterung der russisch-europäischen Beziehungen bedroht vor allem die Existenz der beiden Europas selbst, des westlichen Europa und jenes Europa, das bis zum Ural reicht. Diese dramatische Entfremdung vollzieht sich zwischen dem sogenannten alten Europa und dem anderen, dem russischen Europa, und noch hat sie einen friedlichen Charakter. Das Ende ist offen. Entweder gelangt diese Entfremdung an einen Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Oder es gibt eine Entspannung auf der Grundlage gegenseitiger Zugeständnisse.

„Alle Völker kommen zur Vernunft“, sagte ein weiser Mann, „nachdem sie alle anderen Alternativen ausprobiert haben.“ Wir haben fast keine mehr.

Reaktionen: debatte@diepresse.com

Der Autor:

Prof. Ruslan Grinberg (* 1946), Korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN), ehemaliger Direktor des Instituts für Internationale Wirtschaft und Politik an der RAN und einst Berater von Michail Gorbatschow. Im Februar 2022 unterzeichnete er einen offenen Brief der russischen Wissenschaftler, in dem der Einmarsch Russlands in die Ukraine verurteilt und zum Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine aufgerufen wird. Grinberg übersiedelte in der Folge aus Sicherheitsgründen nach Berlin.

Ruslan Grinberg.
Ruslan Grinberg. Beigestellt.

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