Spectrum

„Da ist reserviert! Können S´ned lesen?“

Er folgte den anderen, die offenbar wussten, wohin sie wollten.
Er folgte den anderen, die offenbar wussten, wohin sie wollten. Viennaslide/Picturedesk
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Die Welt ist voller Zeichen: „RJ Xpress 60 München Hbf“, doch die Zeichen flitzten, bewegten sich zu schnell, sprangen nach oben. Oder rasten nach links, blinkten und verschwanden. Seine Hände schwitzten. Du schaffst das, sieh hin: „6-0 M-ü-n-ch-e-n.“ Eine Erzählung über die Schwierigkeiten eines Analphabeten.

Die Welt war eine Welt der Zeichen, und sie standen überall. Fortwährend wurde er auf sie verwiesen, mal geduldiger, mal unwirscher, wie auf dieser Anzeigentafel am Bahnhof: ein Flattern, Huschen und Blinken, ein feindliches Heer. Und gab er nicht acht, würde sich das Gefühl der Überforderung den Atem holen, wie damals, als Meister Chang sagte, dass ihre Veranstaltung, seit Jahren in der Stadthalle Wien beheimatet, nach St. Pölten verlegt worden sei, kein Sitzplatz im Wagen mehr. Vielleicht auch, weil Meister Chang es so wollte; er jedenfalls gab sich nicht die Blöße und fragte nach. Du schaffst das!, kommentierte Moni gestern und: Lies die Anzeigentafel! Schließlich könne es ja sein, dass …

Er blickte auf die beiden Spalten des Handzettels: Alle Stationen der Reihe nach gelistet, daneben die Uhren, Mittwoch, 13. März, Ausgangspunkt Wien Meidling – 10:00. Um diese Zeit hätte er genug Ruhe, das richtige Gleis zu suchen. Er zog sein Handy aus der Jackentasche, verglich die Angaben, um ein weiteres Mal darüber verärgert zu sein, dass sich sein Smartphone viel zu schnell in den Sparmodus verabschiedete, kaum waren seine Augen von MI., 1 zum nächsten Zeichen geglitten – Glaub mir: Es ist wichtig, dass du auch diesen Muskel trainierst, hatte Moni gesagt, und ihre Finger waren in einer Eile geflogen, bei der er unmöglich mitkommen konnte. Ohne Übung kein Erfolg. Also lass die Einstellungen, wie ich sie gesetzt habe!

Kontrolliere die Anzeigetafel

10:03, zu spät. Schon begann, was er für sich das hitzige Flattern nannte – Ausatmen. Immer mit der Ruhe. Der Bahnhof ist klein. Dein Zug geht erst um 10 Uhr 35, und: Gleis 5, hatte sie gesagt, als sie online miteinander das ­Ticket kauften, ausatmen und ein-, Gleis 5, 22 Minuten bis zur Ankunft – Stell dir den Wecker –, und die Welt ist eine Welt voller Zeichen: 10:35, RJ Xpress 60 München Hbf, letzte Spalte: Gleisangabe – Prüfe die 5 –, doch die Zeichen: Sie flitzten, bewegten sich viel zu schnell, sprangen nach oben. Oder rasten nach links, blinkten und verschwanden. Seine Hände schwitzten. Du schaffst das, sieh hin: 6-0 M-ü-n-ch-e-n, las er, und: 5 – ja, 5: Geh zu dem Gleis.

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