Gastkommentar

Warum wählen wir, was wir wählen?

Vom Kulturerbe zur Wahlentscheidung: ein Plädoyer gegen das politische Bauchgefühl.

Als am 2. April das Königrufen von der Unesco in das nationale Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde, war klar, dass unsere Tarockrunde zeitnah zusammentreten musste, um bei einem längeren Tarockabend dieses Jubiläum zu begehen. Neben dem schönen Spiel, welches durch die Überlegenheit eines anwesenden Bankers dominiert war (er spielte frühzeitig einen Valat, ein Spiel, das durch seine Seltenheit und Remuneration fast uneinholbar macht), wurde natürlich auch politisiert und die jeweilige Position für die kommende Europawahl vorgestellt. Und so homogen unsere Runde nach außen wirken mag, so kam zutage, dass vier verschiedene Parteipräferenzen am Tisch saßen.

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So sehr es mich freut, in einer meinungsvielfältigen, freundlichen und ausgeglichenen Gesellschaft zu leben, so sehr überraschte mich dieser Befund. Bei Nachfragen nach dem Grund der Präferenzen kam ein Phänomen zutage, welches ich in politischen Diskussionen oft höre und welches mich verwirrt zurücklässt. Es sind punktuelle Einzelthemen, die das jeweilige Wahlverhalten dominieren. So wurde bei dem einen Freund das Engagement der Tochter bei der einen Partei als wesentliches Kriterium herangezogen, was in irgendeiner Weise ja reizend und nachvollziehbar ist, aber der politischen Positionierung des Freundes in den meisten gesellschaftlichen Fragen überhaupt nicht entspricht.

Keine klaren Sachargumente

Ein anderer Freund monierte die politische Position einer Partei in einer winzigen Einzelfrage als entscheidendes Kriterium für seine Wahl einer anderen Partei. Für mich ebenfalls überraschend, denn auch bei ihm stimmen meines Wissens die meisten vertretenen politischen Positionen nicht mit der präferierten Partei überein.

Auch der Dritte der Runde konnte keine klaren Sachargumente für seine Wahl darlegen, es sind die Attraktivität der Kandidatinnen und Kandidaten und das Bauchgefühl, die ihn leiten. Es scheint also schwierig zu sein, seine eigene gesellschaftspolitische Orientierung in vielen Einzelfragen mit den Parteiprogrammen in Abstimmung zu bringen, was bedeuten würde, dass jeder die Partei wählt, die in der Gesamtbetrachtung seine politischen Meinungen am besten abbildet und am meisten entspricht. Einzelthemen, die Ablehnung anderer Positionen oder das Bauchgefühl scheinen zu dominieren – ein Grund, warum ich Unterstützungsinstrumente der Wahlentscheidung, wie zum Beispiel die leider derzeit eingestellte wahlkabine.at, sehr vermisse.

Wer denkt an die Zukunft?

Ein möglicher Pfad aus diesem Dilemma wäre auch, sich zu fragen, welches der politisch diskutierten Themen eigentlich für die Zukunft unseres Lebens in den kommenden 20 Jahren entscheidend sein wird und welche Partei dieses Thema am klarsten anspricht und Lösungen anbietet. Dann hätte man zumindest eine Orientierung an „seinem“ jeweiligen Hauptthema, statt auf das Bauchgefühl oder die Attraktivität der Kandidatinnen und Kandidaten angewiesen zu sein.

Dass die Klimakatastrophe unausweichlich, schon heute in allen Lebensbereichen spürbar und nur durch entschiedene Gesamtmaßnahmen bewältigbar ist, ist auch in meiner Tarockrunde unumstritten. Ob wir in vielen gesellschafts- oder wirtschaftspolitischen Positionen eher konservativ oder progressiv denken, wird keine Rolle mehr spielen, wenn wir dieses Hauptproblem nicht sofort gesamtgesellschaftlich angehen.

Dr. Kalus Atzwanger (* 1965) ist Verhaltenswissenschaftler und Unternehmensberater. Er beschäftigt sich mit menschlichem Sozialverhalten, der Akzeptanz von Innovationen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Mehrere Publikationen.

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