Gastkommentar

Plädoyer für einen Toleranzkodex

(c) Peter Kufner
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Brechen wir in eine bessere Welt auf, oder befinden wir uns in einer Abwärtsspirale spaltender Identitätspolitik?

In Österreich und in einigen anderen Ländern westlicher Prägung gestaltet sich das Leben in einer realen kulturellen Vielfalt. Parallel dazu existiert ein medienwirksamer Diskurs, der alle Menschen zu mehr Mut hinsichtlich Vielfalt, Inklusion und der Entfaltung von Identitäten auffordert. Wir haben es also tagein, tagaus mit diesen zwei Realitäten zu tun. Nirgends, nicht in der Schule, nicht am Arbeitsplatz, können wir uns dieser doppelten Realität entziehen.

Es stellt sich nun die Frage: Brechen wir in eine bessere Welt auf, oder befinden wir uns in einer Abwärtsspirale spaltender Identitätspolitik, wie Y. Mounk in seinem jüngsten Buch „Im Zeitalter der Identität“ diagnostiziert?

Fakt ist: Diversität auf allen Gebieten ist Realität geworden und hat zahlreiche Facetten. Manche mögen sie beglückend finden, für andere ist Diversität womöglich nicht von Bedeutung. Wieder andere mögen dagegen den Eindruck gewonnen haben, dass eben diese Buntheit zahlreiche Konflikte verursacht und dass die Welt derzeit nicht rund läuft.

Überdies zeigt die „Gruppenforschung“, so lesen wir auf der Homepage der Kieler Forschungsstelle für Toleranz, „dass Menschen, die unterschiedlichen Gruppen oder sozialen Kategorien angehören, einander meist nicht mögen. Das lässt sich regelmäßig beobachten, wenn Menschen aufeinandertreffen, die einen unterschiedlichen nationalen (...) Hintergrund besitzen, einen unterschiedlichen Glauben (...) praktizieren (...).“

Frieden

Dort, wo Menschen miteinander interagieren, verläuft das Leben selten reibungslos, weil sie sich zu wenig mögen, so die obige Diagnose. Und das ist der springende Punkt: Wir müssen einsehen, dass wir uns leider zu selten in einer „Oase“ intakter Beziehungen, in „Resonanzräumen“ (H. Rosa) befinden. Unser Leben spielt sich überwiegend in „Toleranzräumen“ ab, sprich unter Menschen und Umständen, die wir nicht unbedingt mögen. Deswegen sollten wir uns in Toleranzfragen besser auskennen. Und dies umso mehr, je enger die Räume sind und je diverser die Gesellschaft ist. Es ist unbestreitbar: Weder Europa noch Österreich befanden sich seit dem Zweiten Weltkrieg in einer dermaßen konfliktgeladenen Situation, wie wir sie heute erleben.

Was ist geschehen? Sehr viel. Menschen und Staaten sind nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 in rasendem Tempo aneinandergerückt. Das Internet und die Entstehung der globalen Wirtschaft trugen wesentlich dazu bei. Es entstand eine noch nie da gewesene Diversität und Dichte, mit der viele Staaten und Individuen kaum angemessen umgehen können. Und das ist kein Wunder, denn wie man in dieser Dichte Frieden und Demokratie bewahrt, wurde in keiner Schule der Welt je hinreichend unterrichtet – jedenfalls nicht in dem Ausmaß wie andere Inhalte (vgl. etwa J. Nida-Rümelin, „Demokratie in die Köpfe“, 2023). Offenbar ist die Welt in ein globales Beziehungsproblem geraten. Oft gelingt nicht einmal mehr ein einfaches Zuhören.

Toleranzbeziehungen

Der Toleranzbegriff ist so alt wie die Menschheit selbst. Er hat im Lauf der Geschichte zahlreiche Änderungen erfahren. Die moderne Toleranz ruft weder dazu auf, etwas ertragen zu müssen, das uns nicht gefällt, noch dazu, alles zu akzeptieren, wie dies ein Teil der öffentlichen und politischen Meinung gern hätte.

Moderne Toleranz basiert vielmehr auf demokratischen Normen, vor allem auf den universalen Menschenrechten und auf Respekt. Sie ist somit alles andere als beliebig; prägnant formuliert ist sie nichts anderes als „durch Respekt gezähmte Ablehnung“ (B. Simon, 2022). Wirklich zukunftsträchtig ist folglich nur jene Toleranzhaltung, in der stichhaltige Argumente für die jeweils tolerierten, abgelehnten oder akzeptierten Handlungen vorzufinden sind.

Im Gegensatz dazu hat sich in der westlichen Welt und nicht zuletzt hierzulande eine politische Toleranzhaltung breitgemacht, die oft nicht in der Lage ist, Handlungen, die sich gegen die Demokratie und Menschlichkeit richten, rechtzeitig und vor allem unparteiisch zurückzuweisen. Dies stellt eine bedenkliche Entwicklung dar, denn durch den Werterelativismus können unbeabsichtigte Reaktionen der Bevölkerung und der Politik hervorgerufen und Einstellungen evoziert werden, die dann oft zu restriktiv, zu kulturbezogen ausfallen oder sogar in ungerechtfertigte Ablehnung münden – vor allem wenn es die Themen Migration und Minderheiten betrifft.       

Toleranzkodex

Es empfehlt sich daher, über die Etablierung eines Toleranzkodex nachzudenken, statt über schwer operationalisierbare „Fremd- und Eigenkultur“ zu debattieren. Dank zahlreicher internationaler Forschungsansätze ist Toleranz mittlerweile ein in der Praxis gut anwendbarer Begriff geworden. Er basiert auf sachlichen Abwägungen: Was spricht für die eine oder andere Haltung, und was spricht dagegen? Argumente und Gegenargumente für typische und häufig auftretende konfliktgeladene Situationen ließen sich somit in einem Toleranzkodex zusammenführen und kontinuierlich erweitern. Zu dessen Erstellung benötigt man ein Team von Personen aus den Bereichen Kultur, Geistes-, Rechts- und Sozialwissenschaften; ein Team, das in der Lage ist, für wesentliche und sich ständig wiederholende Konflikte fundierte Lösungen auszuarbeiten, und zwar transparent und öffentlich zugänglich.

Ein solches Regelwerk hätte auch zum Ziel, täglich vorkommende falsche Toleranzhaltungen zu verhindern. Es würde Folgendes beinhalten: a) eine allgemeinverständliche Definition von Toleranz und deren typischer Erscheinungsformen in Alltag und Politik; b) einen kurzen, per Handy ausfüllbaren Fragebogen, der es ermöglicht, rasch und unkompliziert die grundlegende Toleranzhaltung einer Person oder Gruppe zu ermitteln – ähnlich wie bei einem Persönlichkeitstest; c) ein Tool zur Auflistung häufig auftretender Konflikte und deren Lösungen. Mögliche Fragen (und Antworten) könnten etwa sein: „Was mache ich als Lehrkraft, wenn Kinder sich weigern, ein Museum moderner Kunst zu betreten?“ Oder: „Was mache ich, wenn in meiner Klasse tagein, tagaus Konflikte aufgrund überhöhter nationaler Zugehörigkeit an der Tagesordnung sind?“

Wie die Beispiele zeigen, ließe sich ein solcher Kodex erst einmal relativ einfach (obwohl die Konflikte nicht einfach sind) für die Schule erstellen und erproben. Das wäre wohl auch am dringendsten, denn im täglichen Schulbetrieb treten Probleme zutage, für deren Lösungen es offenbar kein eindeutiges und unverhandelbares Regelwerk gibt.

Es ist immer ratsam, mit Nähe und Distanz geschickt umzugehen, egal ob wir uns im Raum globaler staatlicher Beziehungen oder in der Klasse befinden. Eine friedliche Koexistenz ist zwar nicht das Gelbe vom Ei, aber immer noch besser als Krieg. Daher empfiehlt es sich in Fällen, bei denen aufgrund unversöhnlich erscheinender ideologischer oder religiöser Unterschiede keine Aussicht auf eine Etablierung von verbindenden Regeln besteht, von der Koexistenztoleranz Gebrauch zu machen. Wenigstens vorübergehend – bis eine bessere Lösung heranreift.      

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Beigestellt

Der Autor

Zoltan Peter (*1963, Rumänien), Doktoratsstudium am Institut für Soziologie an der Uni Wien. Obmann des Vereins für Kultur- und Migrationsforschung. Jüngstes Projekt: Offenheitsaspekte und Toleranzdimensionen der Schule.

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