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Zu Hause im Wiener Speckgürtel

Für Städter schlägt in der Provinz bekanntlich das Herz der Finsternis. Wehe dem, der es aus dem Takt zu bringen versucht.
Für Städter schlägt in der Provinz bekanntlich das Herz der Finsternis. Wehe dem, der es aus dem Takt zu bringen versucht.Katharina Mikhrin/Picturedesk
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Für meine Freunde war der Wienerwald eine Restaurant­kette für Hühnerfleisch und der Ort, wo Jack Unterweger Frauenleichen verscharrte. Über resignierte Müllmänner, die Kuscheltiere eines Altnazis und Sebastian Kurz, der Jugendlichen die perfekte Ausrede geliefert hat.

Als ich vor rund zehn Jahren die Schweiz verließ und in den Wienerwald zog, war der erste Mensch, der an meinem Haus vorbeikam, der „Saubermacher“. Das Wort stand in großen Lettern auf dem hochmodernen Müllwagen, der gerade vor meinem Haus hielt, als ich die Post holte.

Fasziniert sah ich dabei zu, wie ein Roboterarm ausfuhr, geschickt die Mülltonne packte und den Inhalt mit einem eleganten Schwung in den Container kippte. Erst dann bemerkte ich den Mann, der hoch oben in der Kabine sitzend surrend das Fenster runterließ, um mich und meinen damaligen Freund, der durch den Lärm des Müllwagens aus dem Haus gekommen war, zu begutachten. Die neuen Zuzügler. Mein Freund stellte uns vor, erklärte, wir seien gerade erst eingezogen, und ich sei eine Schriftstellerin aus der Schweiz. Unbeeindruckt lehnte der Saubermacher sich aus dem Fenster und blickte auf uns hinunter: „Hier war nie etwas, hier ist nichts, und hier wird nie etwas sein“, sprach er und fuhr davon.

Im Wienerwald sind die Müllmänner Philosophen, dachte ich. Nach New York, London und Berlin bin ich endlich da, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Genau, was ich gesucht habe.

Wie sich herausstellte, war der Wienerwald nicht nur für meine strapazierten Nerven ein Segen, sondern auch zum Schreiben perfekt. Die Reaktionen meines Umfeldes auf meinen Umzug rangierten von erstaunt bis verständnislos.

„Ist es da nicht dunkel?“, fragte eine Bekannte und eine andere unverblümter: „Ich kann mir dich im Wienerwald einfach nicht vorstellen!“  

Für sie war der Wienerwald eine Restaurantkette für Hühnerfleisch und der Ort, wo Jack Unterweger Frauenleichen zu verscharren pflegte. Dabei habe ich mit meinem Umzug vom oberen Zürichsee (Kanton Schwyz) in den Wienerwald lediglich eine Provinz gegen die andere ausgetauscht. Nur habe ich jetzt dreimal so viel Platz. Obwohl ich in den vergangenen Jahren so einige Grünfläche Häusersiedlungen habe weichen sehen, ist der sogenannte Speckgürtel von Wien von der Zersiedelung, wie man sie in der Schweiz kennt, weit entfernt. Platz ist etwas, wovon man am Zürichsee, wo man für eine Kleinstwohnung mit Blick auf die Autobahn ein Vermögen zahlt, nur träumen kann. Aber selbst Wiener warnten mich. Die offene Überheblichkeit der Städter gegenüber Dörflern hat Tradition, das ist auch in der Schweiz nicht anders.

Für Städter schlägt in der Provinz bekanntlich das Herz der Finsternis, in einem beharrlich gleichmäßigen Rhythmus. Wehe dem, der es aus dem Takt zu bringen versucht. Einer meiner Vorfahren, Galli Jenny, war ein Anführer im Schweizer Bauernkrieg 1653, einem Volksaufstand, der sich gegen die unterdrückende Stadtobrigkeit in Basel zur Wehr setzte. Für sein rebellisches Aufwieglertum wurde er in Basel nach einem Schauprozess öffentlich geköpft. Sein Sohn wurde verbannt und zu Galeeren-Haft verurteilt. Doch als er in der Kutsche abgeführt wurde, befreite ihn eine Horde von „Jennys aus dem Wald“, die mit Hellebarden herbeistürmten und die Kutsche erfolgreich überfielen. Dass ich mich nun ausgerechnet im Wald wiederfinde, ist also in gewisser Weise „back to the roots“.

Die Welt vergessen und ihr abhandenkommen

Tatsächlich ist das ehemalige Jagdgebiet der Habsburger – ein 105.000 Hektar großer Biosphärenpark, der sich wie eine Umarmung aus Frischluft um die Hauptstadt legt – mitverantwortlich dafür, dass Wien im europäischen Vergleich regelmäßig als die Stadt mit der höchsten Lebensqualität abschneidet. Ansonsten kann man, wie jeder Müllmann hier weiß, im Wienerwald vor allem eines: die Welt vergessen und ihr abhandenkommen.

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