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Franz Josef Czernin: Wer hat hier was zu verbergen?

Widersprüche sind unsere Hoffnung, meinte Brecht einmal. 
Widersprüche sind unsere Hoffnung, meinte Brecht einmal. Martin Parr/Magnum/Picturedesk
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Man verhält sich zu demokratisch Gewählten oft wie zu Majestäten, Duces, Führern oder wie zu Pop- und Filmstars. Solange Bedürfnissen dieser Art nachgegeben wird und diese gefördert werden, ist eine Gesellschaft bestenfalls auf halbem Weg zur Demokratie. Von Hoffnung und Widerspruch.

Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.
Bertolt Brecht, „Leben des Galilei“

Man schart sich, man drängt sich heran, man bedrängt und drängelt, man fotografiert und filmt, man hält Mikrofone wie künstlich verlängerte Gliedmaßen an ein Gesicht, vor einen Mund, man wartet auf eine Wortspende, oft auf ein Machtwort, nein nicht von Auserwählten, sondern, kaum zu glauben, von demokratisch Gewählten. Man verhält sich zu ihnen wie zu Majestäten, Duces, Führern, Chefs, höheren Wesen oder auch wie zu Pop-, Rock- oder Filmstars. Oft sind für sie hohe Podeste und Bühnen errichtet, Takte und Rhythmen werden vorgegeben, Atmosphären, Auren und Charismen greifen Platz, dass es nur so seine Art hat. Wie in Ernst Jandls Gedicht „wien: heldenplatz“ wird vielen geradezupfingstig“ zumute, und schon „döppelt der gottelbock von Sa-Atz zu Sa-Atz mit hünig sprenkem stimmstummel“.

Versteht man mich, wenn ich behaupte: Solange demokratische Parteien und ihre Protagonisten und solange die Medien und die meisten von uns solche Gestaltung der politischen Öffentlichkeit hinnehmen und für selbstverständlich halten, solange Bedürfnissen dieser Art nachgegeben wird, diese noch gefördert und verstärkt werden, ist eine Gesellschaft bestenfalls auf halbem Weg zur Demokratie?

Der andere halbe Weg, auf dem eine solche Gesellschaft dann ist, ist der zu irrationaler Autorität, zu blindem Gehorsam und Unterwerfung, letztendlich zur Diktatur, dorthin womöglich, wo immer noch „der glanze heldenplatz in maschenhaftem männchenmeere versaggert“. Ein gefährlicherer Widerspruch als der zwischen den demokratischen Gehalten einer gesellschaftlichen Ordnung und der undemokratischen Form, in denen sich diese Gehalte realisieren, ist kaum denkbar. Denn dieser Widerspruch bedeutet – frei nach Francisco de Goyas berühmter Radierung – den Halbschlaf der Vernunft. Und ihr halbes Wachsein reicht womöglich nicht aus, um das Gebären von ganzen Ungeheuern zu verhindern.

Befestigt am Pflock des Augenblicks

Ach, diese Widersprüche: Je mehr Geschichte man sucht, umso tiefer der Schlaf und umso schwerer, aus ihm zu erwachen. Nicht nur wie Stephen Dedalus in James Joyces „Ulysses“: „History is a nightmare from which I am trying to awake“, sondern auch: „Trying to waking up from history is the other nightmare.“ Man muss sehr tief schlafen, ja dem Schlaf auf den Grund gehen, um den Albtraum der Geschichte zu erfahren; nur dann kann der Versuch, aus der Geschichte zu erwachen, schlimm genug sein.

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