Gastkommentar

Wer Kriegsverbrechen begeht, muss Rechenschaft ablegen

Archivbild der Flaggen Estlands, Lettlands und Litauens.
Archivbild der Flaggen Estlands, Lettlands und Litauens.IMAGO/xgrajax
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Es ist ein Irrtum zu glauben, dass der Krieg gegen die Ukraine nicht der Krieg gegen die gesamte freie Welt sei.

Wie in vielen anderen Jahren haben wir auch 2024 ein Jahr der Jubiläen. Heuer feiern wir 20 Jahre seit der größten EU-Erweiterung, 20 Jahre seit dem Nato-Beitritt von Estland, Lettland und Litauen und 35 Jahre seit dem „Baltischen Weg“. Am 23. August 1989, weniger als drei Monate vor dem Fall der Berliner Mauer, reichten sich zwei Millionen Menschen zwischen Tallinn, Riga und Vilnius die Hände, um der Welt ihre Entschlossenheit auszudrücken, in einer freien Welt zu leben.

Wir finden es ärgerlich, wenn unsere Länder als ehemalige Sowjetrepubliken bezeichnet werden. Ähnlich wie Österreich, wurden auch die Republiken Estland, Lettland und Litauen 1918 gegründet. Im Sinne des Völkerrechts sind unsere Länder dieselben Staaten, die vor dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurden. Die Kontinuität der Staatlichkeit ist für uns von grundlegender Bedeutung.

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Wir gehören nach Europa

Bereits in den 1990er-Jahren wurde uns klar, dass es unsere wichtigste Aufgabe ist, unsere Länder und Menschen nach Europa zurückzubringen, wo sie schon immer hingehörten. Jetzt sind wir zu digital fortgeschrittenen und grün bewirtschafteten Ländern mit globaler Konnektivität, einem dynamischen Start-up-Umfeld, gut ausgebildeten Fachkräften und hohen Verteidigungsinvestitionen geworden. Das baltische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf nähert sich dem EU-Durchschnitt, vor dem EU-Beitritt betrug es nur 40 Prozent des EU-Durchschnitts.

Während Sie diesen Artikel lesen, herrscht in den ukrainischen Städten Luftalarm und Kinder werden in U-Bahn-Stationen unterrichtet. Im Frühling 2024 leben dort Menschen unter unvorstellbaren Bedingungen. Der fruchtbare Boden der Ukraine kann nicht produktiv genutzt werden, weil er vom russischen Militär mit Landminen verseucht ist. Estland, Lettland und Litauen haben direkt und langfristig unter dem sowjetischen Imperium gelitten. Das totalitäre Stalin-Regime okkupierte 1940 das Baltikum. Hunderttausende Menschen wurden getötet oder nach Sibirien deportiert. Die erste Welle von Massendeportationen fand am 14. Juni 1941 statt. Auch an dieses Datum sollte man sich erinnern.

Auch nach dem 8. Mai 1945 setzten sich die sowjetischen Repressionen im Baltikum fort. Ein halbes Jahrhundert lang lenkten baltische Diplomaten und einflussreiche Persönlichkeiten im Ausland die Aufmerksamkeit der freien Welt auf diese Teilung Europas. Rechtlich gesehen wurde die Vereinnahmung des Baltikums durch die UdSSR von führenden westlichen Staaten nicht akzeptiert. De facto aber wurde dies meist ignoriert, um keine weiteren Spannungen mit der Sowjetunion zu erzeugen. Insgesamt starben mehr als 20 Prozent der baltischen Bevölkerung an den Folgen von Krieg und Repressionen. Der gesamte menschliche und wirtschaftliche Schaden, der in den 50 Jahren der Besatzung angerichtet wurde, ist unermesslich.

Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass sich solche brutalen Verstöße gegen das Völkerrecht nirgendwo mehr wiederholen. Heute erkennen wir, dass einer der Gründe für die gegenwärtige Aggression Russlands in der Ukraine darin liegt, dass Russland für seine sowjetischen Verbrechen niemals zur Rechenschaft gezogen wurde. Ein Mitglied des UN-Sicherheitsrates verletzt dieses System rücksichtslos. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass der Krieg gegen die Ukraine nicht der Krieg gegen die gesamte freie Welt sei. Wer Kriegs- und Angriffsverbrechen begeht, muss zur Rechenschaft gezogen werden. Die Sicherheit, insbesondere die Sicherheit kleiner Länder, wird traditionell durch ein starkes internationales Rechtssystem garantiert.

Leider ist ein demokratischer Staat keine Selbstverständlichkeit der historischen Entwicklung. Demokratische Entscheidungen sind langsam, manchmal ärgerlich langsam. Aber sie beruhen auf einer echten Zusammenarbeit und sind gerade deshalb sorgfältig durchdacht und nachhaltig. Wir haben zwar viele Meinungsverschiedenheiten, aber noch viel mehr Gemeinsamkeiten. Daher sollte jede Gesellschaft, die den demokratischen Weg wählt, die Ernsthaftigkeit seiner Absichten beweisen und das gemeinsame Wertesystem und den daraus resultierenden Wohlstand genießen können. Aber Geld ist nicht alles. Unsere Werte sind nicht käuflich, und es gibt Partner, mit denen man nicht handeln soll. Die Demokratien haben auch das Recht auf Selbstverteidigung.

Mittsommer im Baltikum

Jede Generation muss längst Bekanntes wiederentdecken. Um das, was uns heute gegeben ist, zu schätzen, lohnt es sich, unser historisches Gedächtnis zu pflegen. Nach Karl Popper, dem gebürtigen Wiener, sind wir jetzt verantwortlich für das, was in der Zukunft geschieht.

Wir laden Sie herzlich ein, die baltische 1419 km lange Ostseeküste und die unendlichen Kiefernwälder zu genießen. Tallinn hat eine gemütliche mittelalterliche Altstadt, Tartu ist heuer eine der Kulturhauptstädte Europas. Riga ist ein Juwel des Jugendstils, das Seebad Jurmala erreicht man nach nur einer zehnminütigen Fahrt vom größten baltischen Flughafen. Vilnius ist die Grüne Hauptstadt Europas 2025, ist stolz auf seine barocke Architektur und bietet Entspannung in der einzigartigen Sanddüne der Kurischen Nehrung an der Ostsee. Sommer ist die schönste Saison, das Baltikum zu besuchen, zum Beispiel zum Mittsommerfest im Juni. Dann ist die Nacht die kürzeste im ganzen Jahr und der Tag – der längste.

Guna Japiņa (*1974) ist seit 2021 Botschafterin der Republik Lettland in Österreich. 
Merle Pajula (*1960) ist seit 2022 Botschafterin der Republik Estland in Österreich.
Lina Rukštelienė (*1971) ist seit 2023 Botschafterin der Republik Litauen in Österreich.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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