Gastkommentar

Recht auf Leben fern des Digitalen

Wo befindet sich die Schnittstelle, ab der von der nicht digitalen Welt in die digitale zu wechseln ist?

Schon oft erhob die Präsidentin des Österreichischen Seniorenbundes, Ingrid Korosec, die Forderung, dass alle Kommunikation mit Behörden und staatlichen Einrichtungen auch ohne Verwendung digitaler Geräte möglich sein muss. Selbstverständlich erlaubt die Digitalisierung eine unerhörte Vereinfachung, sie beschleunigt Verfahren in außerordentlicher Weise. Es wäre unverantwortlich, sich diesen Vorteilen verweigern zu wollen.

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Die eigentliche Frage, die sich stellt, lautet: Wo befindet sich die Schnittstelle, ab der von der nicht digitalen Welt in die digitale zu wechseln ist? Natürlich wünschen sich Behörden, diese außerhalb ihres Wirkungsbereichs, gleich bei den ihre Daten zur Verfügung stellenden Bürgerinnen und Bürgern, auszulagern. Doch den Wunsch, die Schnittstelle zum Digitalen gleich beim Bürger anzusetzen, zum Zwang zu verwandeln, geht zu weit. Und ebenso ist es unangebracht, jene Bürgerinnen und Bürger, die bei ihren Eingaben nicht digital vorgehen wollen, zu benachteiligen oder ihnen gar die Möglichkeit des Behördenwegs und der Kommunikation mit staatlichen Stellen zu entziehen.

Manche Politiker, so kürzlich SPÖ-Chef Andreas Babler bei einer Parteitagsrede, führen als Argument dafür an, es seien „vor allem ältere Menschen mit der schnellen Digitalisierung in allen Lebensbereichen überfordert“. Wer so spricht, meint es zwar gut, mimt aber doch zu sehr den Betreuer der dem modernen Leben scheinbar nicht mehr Gewachsenen. Vor allem schrammt er an der eigentlichen Problematik vorbei.

Ich versuche dies anhand eines Vergleichs zu verdeutlichen. Befürworter der Digitalisierung von Behördenwegen gleich bei der Eingabe argumentieren so: Wir haben auch früher nicht gestattet, dass jemand zur Behörde geht und sich dort einfach nur mündlich äußert. Es sind schriftlich Formulare auszufüllen. Jetzt eben digitale. Doch dieser Vergleich hinkt. Denn egal, ob ich eine Botschaft mündlich, handschriftlich oder mit einer Schreibmaschine auf Papier verfasse, in jedem Fall habe ich diese eigenmächtig in der Hand. Aber ich gebe sie aus der Hand, verliere Eigenmächtigkeit, wenn ich die Botschaft in ein digitales Gerät eingebe. Denn dann wird sie von einem Rechenverfahren, einem sogenannten Algorithmus, in eine Folge aus Nullen und Einsen verwandelt. Niemand hat hier den Überblick. Man muss den Algorithmen vertrauen. Doch auch wenn digitale Firmen versprechen, für Datensicherung zu sorgen: Wer weiß wirklich, welcher Unfug mit den Daten angerichtet werden kann?

Die Eigenmächtigkeit all jener Bürgerinnen und Bürger zu bewahren, die sie nicht aufgeben wollen, sollte fundamentales Anliegen des liberalen Rechtsstaats sein. Allein deshalb ist allen zuzugestehen, sich von digitalen Geräten fernhalten zu können, ohne Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.

Babler hat es das „Recht auf analoges Leben“ genannt. Auch mit diesem Wort trifft er nicht den Kern der Sache. Denn es erweckt den Anschein, dass es neben der digitalen Welt gleichwertig eine nicht digitale, analoge Welt gebe. Tatsächlich herrscht zwischen den Welten ein Unterschied. Denn die Welt des Digitalen ist nicht echt; nichts im Digitalen ist wirklich, alles nur Simulation. Ein „analoges Leben“ ist also ein sinnloser Begriff, weil es kein „digitales Leben“ gibt. Wohl aber gibt es den Willen, so eigenmächtig zu leben, dass man sich so weit vom Digitalen fernhält, wie man es für richtig befindet. Ingrid Korosec hat recht: Diesen Willen hat der Staat zu respektieren.

Rudolf Taschner (*1953) war a. o. Professor an der TU Wien. Von 2017 bis 2019 und seit 2020 erneut ÖVP-Abgeordneter zum Nationalrat.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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