Gastkommentar

Warum Europas neuer Migrationspakt wichtig ist

(c) Peter Kufner
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Obwohl niemand völlig zufrieden ist, bleibt die EU nicht blockiert. Jeder Fortschritt, egal, wie begrenzt, ist der Untätigkeit vorzuziehen.

Die mit knapper Mehrheit erfolgte Verabschiedung des Pakts zu Migration und Asyl hat inmitten sich verschärfender geopolitischer Spannungen und angesichts der bevorstehenden Europawahl relativ wenig Beachtung gefunden. Und natürlich ist die Einigung eher der Tatsache ihrer Verabschiedung wegen bemerkenswert als wegen der in ihr enthaltenen Bestimmungen. Trotzdem markiert sie die Kulmination jahrzehntelanger Bemühungen zur Reform des „Dublin-Systems“ der EU zur Regelung von Migrationsfragen.

Die dringende Notwendigkeit von Veränderungen war nicht zu bezweifeln. Allein im vergangenen Jahr haben 380.000 Menschen unbefugt die EU-Grenzen überquert – die höchste Zahl seit 2016 –, und eine Rekordzahl von 1,14 Millionen hat Asyl beantragt. Die Hauptankunftsländer – darunter Griechenland, Italien und Spanien – hatten sich schon lang für eine fairere Verteilung der Asylsuchenden innerhalb der EU ausgesprochen. Doch ein Konsens zu diesem Thema war aufgrund der unterschiedlichen Interessen und Prioritäten der EU-Mitgliedstaaten schwer erreichbar.

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Zerbrechlicher Kompromiss

Das hat sich nicht geändert. Der Pakt zu Migration und Asyl beruht auf einem zerbrechlichen Kompromiss: Die Frontstaaten stimmten zu, Aufnahmelager zur Bearbeitung der Asylanträge der Asylsuchenden einzurichten und als nicht anspruchsberechtigt betrachtete Personen abzuschieben, und die übrigen EU-Länder sollen entweder einen Teil der Übrigen aufnehmen oder sich an Initiativen zur Kostenübernahme beteiligen. Vielen führenden europäischen Politikern jedoch geht dies nicht weit genug.

Tatsächlich wurde der Pakt nur mit Mühe verabschiedet. Zwar erhielt er die Unterstützung der drei wichtigsten Fraktionen im Parlament: der gemäßigt rechten Europäischen Volkspartei (EVP), der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten und dem liberalen Renew Europe. Doch eine beträchtliche Zahl der Europaabgeordneten enthielt sich der Stimme und tat damit faktisch ihre Ablehnung kund.

Die Anstrengungen zur Verabschiedung des Migrations- und Asylpakts verdeutlichten die komplexe politische Dynamik, die den Ansatz der EU in Bezug auf die Migration bestimmt. Sowohl Italiens Sozialisten als auch die ihnen ideologisch nahestehende Fünf-Sterne-Bewegung stimmten gegen Teile der Gesetzesvorlage. Dies war weitgehend ihrem Interesse geschuldet, ihre Opposition gegenüber Ministerpräsidentin Giorgia Meloni kundzutun – einer wichtigen Befürworterin der Übereinkunft. Eine ähnliche Dynamik entfaltete sich parallel dazu zuletzt auch in Frankreich.

Neue Unstimmigkeiten

Der Prozess legte zudem neue politische Unstimmigkeiten offen. Die Vertreter der deutschen Grünen etwa stimmten ihren Parteikollegen in Deutschland zuwider gegen das Paket.

Der Pakt dürfte nun vom Rat der Europäischen Union am 29. April gebilligt werden. Doch von beiden Enden des politischen Spektrums kommt weiterhin Widerstand. Die weit rechts stehenden Parteien sagen, dass er zur Abschreckung von Migranten nicht ausreiche, während nach links neigende Gruppen und NGOs sich sorgen, dass er zu wenig für den Schutz der Rechte der Migranten und die Sicherung angemessener Lebensbedingungen tut.

Der polnische Ministerpräsident, Donald Tusk, hat angekündigt, dass Polen den Umsiedlungsmechanismus nicht anerkennen würde, und der populistische Ministerpräsident der Slowakei, Robert Fico, hat erklärt, er würde die neuen Regeln überhaupt nicht umsetzen.

Meloni war treibende Kraft

Trotzdem könnte der Migrations- und Asylpakt positive Lehren über die EU-Politik und die Zukunft der Union bereithalten. Insbesondere zeigten die Bemühungen zu seiner Verabschiedung, welchen Einfluss Politiker wie Meloni haben können, wenn sie ihre Fähigkeiten zur Koalitionsbildung zum Einsatz bringen.

Im Gegensatz zu ihrem kampflustigen Wahlkampfstil verfolgt Meloni in der europäischen Politik einen pragmatischen und konstruktiven Ansatz, insbesondere, was die Migration angeht. Zum Beispiel war sie die wichtigste Architektin der von der EU-Kommission und Tunesien im Juli unterzeichneten Absichtserklärung. Obwohl diese Ziel reichlich verdienter Kritik war – sie ist kein Modell für den Dialog mit Drittländern –, hat sie Meloni als wichtige Stimme in Europas Migrationsdebatte etabliert.

Meloni war zudem die treibende Kraft hinter anderen bilateralen Vereinbarungen, so etwa dem jüngsten Hilfsabkommen mit Ägypten, das darauf zielt, die ungeregelte Migration in die EU zu begrenzen. Bei der Gewinnung von Unterstützern für den Migrations- und Asylpakt hat Meloni mit der EU-Kommission zusammengearbeitet und in einem Zeitraum von acht Monaten mehr als 20 viel beachtete Missionen im Mittelmeerraum unternommen.

Barometer für EU-Parlament

Letztlich deutet der Migrations- und Asylpakt auf einen sich auf EU-Ebene herausbildenden politischen Ansatz hin zum unvollkommenen Konsens hin. Obwohl niemand völlig zufrieden ist, bleibt die EU nicht blockiert. Jeder Fortschritt, egal, wie begrenzt, ist der Untätigkeit vorzuziehen. In diesem Sinne wird das Schicksal des Migrationsabkommens als eine Art Barometer für das nächste Mandat des EU-Parlaments dienen.

Die EU steht in der Migrationspolitik an einem Scheideweg. Sie hat den Geist des „Wir schaffen das“ aufgegeben, wie ihn Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 mit ihrer Entscheidung verkörperte, über einer Million Asylsuchenden die Einreise nach Deutschland zu gestatten. Die Idee, Asylsuchende zu zwingen, sich außerhalb der Grenzen der EU anzusiedeln, ist dabei, Fuß zu fassen, was etwa am Programm der EVP für die Wahlen im Juni sichtbar wird.

Die EU braucht Migranten

Trotz breiter Zustimmung für eine Begrenzung der Migration jedoch braucht die EU Migranten, um wichtige geringqualifizierte Arbeitsplätze – z. B. im Bau – zu besetzen, bei denen akuter Arbeitskräftemangel besteht. Einen Konsens über das richtige Gleichgewicht zwischen diesen beiden zwingenden Notwendigkeiten zu finden wäre schon unter optimalen Umständen schwierig; in einem Moment tiefer Polarisierung ist es praktisch unmöglich.

Doch die EU muss einen Weg voran finden. Zu diesem Zweck muss das nächste EU-Parlament – das mit Sicherheit noch zersplitterter sein wird – sich gestützt auf Pragmatismus und ein Bekenntnis zu gemeinsamen Werten das Meloni-Modell kreativer Koalitionsbildung zu eigen machen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan,
© www.project-syndicate.org

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Die Autorin

Privat

Ana de Palacio (* 1948) studierte u.a. Rechts- und Politikwissenschaften und war von 2002 bis 2004 spanische Außenministerin in der Regierung José María Aznar, und damit erste Frau an der Spitze der spanischen Diplomatie; später Vizepräsidentin der Weltbank. Sie zog 1994 für die konservative Partido Popular (PP) ins Europäische Parlament.

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