Gastkommentar

Tschechien ist 20 Jahre bei der EU und 25 Jahre bei der Nato

Die EU bedeutet für die Tschechische Republik Demokratie und Prosperität, die Nato ist die einzige verlässliche Sicherheitsgarantie.

Tschechien markiert dieses Jahr zwei Jahrzehnte Mitgliedschaft in der Europäischen Union und 25 Jahre Mitgliedschaft in der Nato – ein bedeutsamer Abschnitt in der Geschichte des Landes, der weitreichende Auswirkungen hatte. Neben Prosperität, Stabilität und demokratischer Verankerung ist das tschechische Streben nach europäischer Integration und transatlantischer Zusammenarbeit seit jeher auch eine Frage der Selbstbestimmung und geopolitischer Sicherheit.

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In ihren guten Momenten hatte die tschechische Politik ein realistisches Bewusstsein um ihre eigene Größe und ihre Möglichkeiten. Sie suchte daher eine Verankerung in größeren politischen Einheiten. Ein Zitat des tschechischen Staatsmanns und Historikers František Palacký von 1848 bringt es treffend zum Ausdruck: „Sie wissen, dass der Südosten von Europa, die Grenzen des russischen Reiches entlang von mehreren in Abstammung, Sprache, Geschichte und Gesittung merklich verschiedenen Völkern bewohnt wird – Slaven, Walachen, Magyaren und Deutschen, um der Griechen, Türken und Skipetaren nicht zu gedenken –, von welchen keines für sich allein mächtig genug ist, dem übermächtigen Nachbar im Osten in alle Zukunft erfolgreich Widerstand zu leisten; das können sie nur dann, wenn ein einiges und festes Band sie mit einander vereinigt.“ Gemeint war damit die Donaumonarchie, die aus verschiedenen Gründen diese Verankerung schlussendlich nicht geboten hat. František Palacký hat nicht nur vor dem russischen Imperialismus gewarnt, er hat auch das Verlangen abgelehnt, dass Österreich und Böhmen sich an Deutschland anschließen und in Deutschland aufgehen.

Traum vom vereinten Europa

Auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Monarchie existierte das vereinte Europa nur in den Träumen von Intellektuellen, wie des Gründers der Paneuropa-Bewegung Richard Coudenhove-Kalergi (der aus Südböhmen stammte), des irischen Dramatikers George Bernard Shaw (der erklärt hat, dass er sich niemanden anderen als den tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk als das Oberhaupt der Vereinigten Staaten Europas vorstellen könne) oder des deutschen Schriftstellers und tschechoslowakischen Bürgers Thomas Mann.

40 Jahre Gefängnis hinter dem Eisernen Vorhang

Die vermeintlichen nationalen Interessen der europäischen Großmächte haben im Jahre 1938 über die Solidarität mit der demokratischen Tschechoslowakei triumphiert und das Land wurde im Münchner Abkommen Nazi-Deutschland geopfert. Im Zweiten Weltkrieg wurde dann bestätigt, dass die Völker Europas nur gemeinsam in der Lage sind, einem aggressiven, übermächtigen Nachbarn mit Expansionsgelüsten standzuhalten.

Ein beträchtlicher Teil Europas wurde nach dem Krieg Opfer des Imperialismus aus dem Osten und für 40 Jahre in ein Gefängnis hinter dem Eisernen Vorhang verwandelt. Jener Teil, der diesem entkam, fand zum großen Teil Verankerung zuerst in der Nato und später in der Europäischen Union. Es war nur logisch, dass sich das spätere Tschechien nach der demokratischen Wende 1989 klar in Richtung dieser zwei Gebilde auf den Weg machte, um (erneut) ein Bestandteil der westlichen, demokratischen Staaten- und Wertegemeinschaft zu werden.

Die EU bedeutet für uns Demokratie und Prosperität, die Nato ist die einzige verlässliche Sicherheitsgarantie. Gemeinsam schaffen sie für uns einen Raum der Freiheit. Diesen Raum teilen wir heute auch mit den Deutschen, die sich entschieden haben, dass „Einigkeit und Recht und Freiheit“ wichtiger als die Parole „Deutschland über alles“ sind. Für die Nachbarländer Tschechien und Österreich hat die gemeinsame Mitgliedschaft in der EU Möglichkeiten gebracht, auch kontroverse Themen auf einer Plattform des gegenseitigen Respekts und Verständnisses zu diskutieren. Mit Erfolg: Eine Umfrage aus dem vorigen Jahr zeigt, dass 55 Prozent der Österreicher die gemeinsame Mitgliedschaft Tschechiens und Österreichs in der EU als den wichtigsten Abschnitt unserer Geschichte betrachten.

Václav Havel, damals tschechischer Präsident a. D., hat schon 2008 beobachtet, dass die alte Warnung Palackýs wieder aktuell wird: „Es sieht so aus, als ob das alte Problem Russlands wieder zum Leben kommt. Russland verliert wieder die Erkenntnis, wo es anfängt und wo es endet.  (…) Als ob Russland noch dachte, dass das, was in der Vergangenheit zu ihm gehörte, ihm immer gehören wird.“ Sein ehemaliger Kanzler Karel Schwarzenberg hat es 2014 noch deutlicher gesagt: „Ich kann ihnen garantieren, dass einem Rechtsbruch der nächste auf dem Fuße folgt. Wir beobachten soeben, wie die Krim als Vorspeise eingenommen wird. Ich fürchte, wir werden noch eine georgische Suppe und vielleicht eine ukrainische Hauptspeise beobachten.“

Wir wollen nicht Russlands Dessert werden

Der russische Angriff auf die Ukraine vor zwei Jahren hat uns die Bedrohung der russischen Expansion deutlich vor Augen geführt. Russland hat es bisher nicht geschafft, die Hauptspeise zu verzehren. Wir alle hoffen, dass es so bleibt; wir dürfen nicht die Appeasement-Politik des Jahres 1938 wiederholen. Egal, wie wenig man ihn wahrhaben will: Der Krieg in Europa geht weder an uns noch an Österreich vorbei. Mit dem Essen kommt der Appetit. Nur die Mitgliedschaft in der EU und (im Falle Tschechiens) in der Nato schützt uns davor, zum Dessert zu werden. Unsere gemeinsame Aufgabe ist, das existierende feste Band zwischen unseren Völkern zu stärken und Europa weiterhin einig, sicher und demokratisch zu erhalten.

Jiří Šitler (*1964) ist ein tschechischer Diplomat und Historiker. Er ist seit September 2022 außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Tschechischen Republik in Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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