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Reden wir über das, was wir gerade verlieren

Seit Jahrhunderten lebt Venedig in einer gewissen Leichtigkeit mit seinem drohenden Untergang.
Seit Jahrhunderten lebt Venedig in einer gewissen Leichtigkeit mit seinem drohenden Untergang. Christophe Vander Eecken/laif/Picturedesk
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Den Glauben früherer Generationen, dass eine schönere Zukunft vor uns liegt, können wir nicht mehr teilen. Und schon gar nicht den, dass die Kinder ein besseres Leben haben werden als wir.

Aufgrund eines Todesfalls, der mir für lange Zeit mein Gefühl psychischer Intaktheit raubte, musste ich in den vergangenen Jahren viel über Verluste nachdenken. Über kleine und große, persönliche und gemeinschaftliche Verluste. Beim privaten Verlust, mit dem ich mich auseinandersetzen musste, handelte es sich um den Tod meines Vaters – ein Verlust, den wir im Laufe unseres Lebens fast alle erfahren, der mich dennoch aus der Bahn warf. Beim kollektiven Verlust um den des Gefühls der Stabilität. Beide Verluste schienen zunächst wenig miteinander zu tun zu haben. Erst spät bemerkte ich, wie schwer es mir fiel, sie für mich persönlich voneinander zu trennen. Und noch viel schwerer, sie zu akzeptieren. Was die Erfahrung beider Verluste für mich verband, war die Kraft meines Verdrängens. 

Einen Teil dieser Zeit verbrachte ich in Venedig, einer Stadt, die ich liebe. Und auch eine Stadt, in die seit dem 19. Jahrhundert Touristen und Touristinnen fahren, um sie noch ein letztes Mal zu sehen, bevor sie untergeht. Venedig ist sehr viel weniger morbid als viele denken. Im Gegenteil. Hinter seinen unfassbar schönen Freiluftmuseum-Fassaden verbirgt sich eine hochmoderne Stadt, die den politischen und klimatischen Entwicklungen, denen wir derzeit akut ausgesetzt sind, schon seit einigen Jahrzehnten trotzt. Vielleicht war das auch ein Grund, warum es mich dorthin zog.   

Wenn Sie zu der Mehrzahl der Menschen in Europa gehören, die nicht in Venedig, nicht auf einer griechischen Insel, nahe einem Alpengletscher oder im deutschen Ahrtal leben, werden Sie beim Lesen der Überschrift dieses Textes vielleicht gedacht haben: Warum Verluste? Was hat der Klimawandel mit Verlusten zu tun? Mit Zukunftssorgen, gewiss, mit Ängsten bezüglich der kommenden Jahre. Aber was sollen wir verloren haben? 

Wir erleben den größten Verlust der Artenvielfalt seit zehn Millionen Jahren

Und ich könnte an dieser Stelle einwenden: So viel. So viel mehr, als Sie glauben. So viel mehr, als wir begreifen können. Die meisten von Ihnen werden die Fakten kennen. Wir erleben den größten Verlust der Artenvielfalt seit zehn Millionen Jahren, das sechste große Massensterben in der Geschichte unseres Planeten, dieses Mal menschengemacht. Jeden Monat messen wir die höchsten Temperaturen, die jemals aufgezeichnet wurden, und schon jetzt hat das unseren Alltag unwiederbringlich verändert. Während in einigen Regionen der Welt die Wälder brennen, leiden andere unter Starkregen, Wirbelstürmen und katastrophalen Überschwemmungen und wieder andere unter nie da ge­wesenen Dürreperioden. Schon heute sorgen diese Extremwetterlagen für die Flucht Hunderttausender Menschen in andere Teile der Welt, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird ihre Zahl auf Millionenhöhe steigen. Vergangenen Sommer war die Menge des Meereises in der Antarktis so gering wie es, mathematisch gesehen, nur alle 30 Millionen Jahre vorkommen sollte. Aufgrund von Gesteinsablagerung rief auch die Geologie das ­Erdzeitalter des Anthropozäns, der menschengemachten Katastrophen, aus, das bis dahin nur als geisteswissenschaftliche Idee existiert hatte. 

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