„Ich versuche, aus der Not eine Tugend zu machen, ich versuche, übersehen zu werden.“ Edvard Munch, Lithografie, 1896.
Erzählung

Eine Erzählung über Mobbing: In Wahrheit bin ich ein Wechselbalg

Während ich mich aus meinem T-Shirt schäle, betrachtet mich Natascha, das beliebteste Mädchen der Klasse, und stößt einen Schrei aus. „Du hast ja gar keine Titten!“, ruft sie.

Als ich vierzehn bin, kommt mir das erste Mal der Gedanke, dass etwas mit mir nicht stimmen könnte. Alle Mädchen um mich herum springen auf, als wären sie Knospen, kichern und gackern miteinander, stecken die Köpfe zusammen und wirken glücklich. Nur ich bleibe klein und hässlich – und stehe am Rand. „Mobbing“, sagt Mum. „Unsere Lisa wird gemobbt!“

Ich denke zunächst, dass das in Ordnung ist. Ist es aber leider nicht – denn meine Eltern machen sich Sorgen. Sie schicken mich zu einer Frau, der ich von meinen Problemen erzählen muss. Ich habe viel Fantasie: Ich erkläre der Therapeutin, dass ich eigentlich eine Elfe sei. Sie verschreibt mir daraufhin Tabletten, die machen, dass mein Kopf sich anfühlt, als wäre er aus Watte. Wolken machen die Tabletten um meine Gedanken herum, viele, bauschige. Ich kichere oft und kann ohne Ende schlafen.

Natürlich helfen Tabletten nicht gegen das Anderssein. Also versuche ich, aus der Not eine Tugend zu machen: Ich versuche, übersehen zu werden. Wenn ich Menschen treffe, bleibe ich aufgeräumt und eingepackt. Ich ziehe mir fremde Gesichter an, sobald ich mit anderen zusammen bin. Nach außen hin funktioniert das ganz gut, aber in meinem Kopf sirren Tausende Gedanken umher, ich muss immer auf der Hut sein und werde von innerer Nervosität gebeutelt. Und auch von einer äußeren, leider. Ich bin wie meine Gedanken und kann nicht lange still sitzen. Nicht lange genug, um etwas abzuschließen. Immer reißen innere Töne an meiner Aufmerksamkeit, die von weither kommen. Töne, die an die Magie der Kindheit erinnern, die langsam vor meinem inneren Auge verblasst. Wie gerne würde ich in den Wald gehen und immer dort leben, mit den Bäumen und Blumen, mit nichts als dem Rauschen des Windes um mein Hirn und mit dem Gras, das im Sommer die Fußsohlen sticht. Doch natürlich geht das nicht.

Alles rutscht mir aus den Händen

Zum Glück entwickle ich aber eine besondere Waffe, die mich schützt: Wenn mir Menschen zu nahe kommen, dann betöre ich sie mit meinem Gesang. Vielleicht, denke ich bei mir, bin ich wirklich eines von diesen Elfenwesen, die den Menschen untergejubelt werden? Wie auch immer: Außer Musikmachen kann ich nichts. Alles rutscht mir aus den Händen: Bälle, Nadeln, Hände von anderen sogar. Sie gleiten einfach weg. Wenn ich in den Spiegel sehe, dann weiß ich es einfach. Ich bin anders als die anderen. Eingeschrieben in meine Knochen ist es mir. Ich bin schattig, nicht ganz Fleisch und Blut. Ich muss besser aufpassen als die Menschen um mich herum. Denn wer anders ist, wird gemobbt.

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