Leitartikel: Mittelosteuropas Chance: Die Stunde der Pragmatiker

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arek Belka hat Wolfgang Schüs sel schon im August in Salzburg getroffen. Vor gut zwei Wochen besuchte ihn dann Stanislav Gross in Wien. Und heute kommt Ferenc Gyurcsány. Belka, Gross, Gyurcsány? Wer in aller Welt sind denn die? Die neuen Regierungschefs in unserer nahen und etwas ferneren Nachbarschaft sind noch keine großen Namen auf dem mittelosteuropäischen Radar. Zumindest zwei der drei sind echte Newcomer, politische "Frischlinge", die wegen ihres recht jungen Alters möglicherweise eine gewisse Skepsis provozieren, aber auch viel Interesse wecken.

Alle drei kommen aus dem sozialdemokratischen Lager, aber sie sind alles andere als "gestandene" Linke. Was sie auszeichnet und was sie trotz aller unterschiedlichen Charaktere und politischen Einstellungen gemeinsam haben: Sie sind Pragmatiker. Gerade das bietet für die österreichische Regierung, auch wenn sie politisch anders orientiert ist als die "Newcomer", ausgezeichnete Chancen, noch offene Fragen aus der Vergangenheit einer Lösung zuzuführen, über gemeinsame regionale Projekte nachzudenken und deren Realisierung in die Wege zu leiten.

Reden wir einmal nicht über Nostalgie, über gemeinsame historischen Wurzeln und traditionelle Verflechtungen. Reden wir einmal darüber, dass uns im Europa der 25 die Geografie und die gemeinsamen regionalen Interessen im größeren europäischen Rahmen zur Kooperation zwingen.

Wenn man sich die Landkarte ansieht, bilden Polen, Tschechien, Ungarn, Österreich - und selbstverständlich auch die Slowakei und Slowenien - einen Staatenblock von der Ostsee bis zur Adria, durch den sich strategische Verbindungen von Nord nach Süd und von West nach Ost ziehen. Die Zeit ist schon längst reif, dass sich die politischen Führungen in diesem Raum dieser einzigartigen Position bewusst werden, wie das die Wirtschaft teilweise schon seit dem Umbruch 1989 tut.

Die enge regionale Zusammenarbeit im mittelosteuropäischen Raum sollte nicht ein nur oberflächlich behandeltes Thema der Bundes- und Landespolitiker sowie der Diplomaten sein. Sie muss mit konkreten Inhalten ausgefüllt werden, seien es gemeinsame Verkehrs- und Infrastrukturprojekte, seien es politisch abstimmte Initiativen im Rahmen der EU, sei es die Förderung des gesellschaftlichen und kulturellen (Wieder-)
Zusammenwachsens.

Die politische Zugehörigkeit der Regierungschefs in Warschau oder Pressburg, Prag oder Wien, Budapest oder Laibach ist bei diesem großen mittelosteuropäischen Projekt zweitrangig. Was zählt sind politischer Wille und Pragmatismus. Genau das aber bringen "die Neuen" Belka, Gross und Gyurcsány mit, aber gewiss auch Wolfgang Schüssel und Mikulas Dzurinda in Pressburg.

Wer etwa den 35-jährigen Stanislav Gross vor zwei Wochen in Wien erlebt hat, konnte mithören, dass er kein Interesse hat, wie manche seiner Vorgänger etwa mit dem Thema Benes-Dekrete politisches Kleingeld zu wechseln. Der Anstoß zur Vergangenheitsbewältigung in Tschechien - und immer mehr Leute sehen das inzwischen auch hierzulande ein - muss von innen kommen. Die Tschechen lassen sich das genauso wenig von außen aufzwingen wie die Österreicher.

In Polen, wo aufgrund der Größe und Bevölkerungszahl des Landes viele nur zu gerne die Rolle einer europäischen Mittelmacht spielen würden, erkennen mehr und mehr kluge Leute, dass Wollen und Können noch weit auseinander klaffen. Kreatives Engagement im regionalen Rahmen aber kann Warschau auf dem Weg zur anerkannten Mittelmacht tatsächlich weiterhelfen.

Ungarn und Österreich aber sind in diesem mittelosteuropäischen Konzert prädestiniert, bei den ersten Geigen mitzuspielen. Abseits aller politischen und diplomatischen Floskeln: Das Verhältnis beider Länder ist ausgezeichnet, im Wesentlichen unbelastet von schwerem historischem Ballast. Es gilt, eine historische Chance zu nützen.

b.bischof@diepresse.com

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