Regionale Kooperation wird Hit der Zukunft in EU Scharfer Tadel Tallinns für "Moskaus altes Denken"

"Presse"-Interview mit Estlands Chefdiplomatin Kristina Ojuland über die Amerikahörigkeit der neuen Demokratien, die kommende EU-Mitgliedschaft und die schwierigen Beziehungen Tallinns zu Moskau.

DIE PRESSE. Frau Minister, gehört Estland zum "alten" oder zum "neuen" Europa?

Kristina Ojuland: Wir sind ein europäisches Land, gehören historisch und kulturell zu Europa. Und gerade jetzt kehren wir zu unserer alten Familie zurück, von der wir durch die sowjetische Besatzung über Jahrzehnte abgeschnitten waren.

Die Aufteilung in ein altes und neues Europa stammt von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Sehen Sie keine Gefahr, daß die Amerikaner durch eine solche Klassifizierung einen Keil durch Europa treiben wollen?

Ojuland: Mister Rumsfeld meinte, daß sich die zentral- und osteuropäischen Länder den USA näher verbunden fühlen als die sogenannten "alten Europäer". Und er hat in gewisser Weise recht damit. Aufgrund unserer eigenen Geschichte verstehen wir die Sprache der Amerikaner über die neuen Bedrohungen für die westliche Sicherheit sehr gut. Auch in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelten sich aggressive, undemokratische Systeme, und niemand in Europa hat sich ihnen rasch und entschlossen entgegengestellt. Deshalb hat es dann ja auch den Hitler-Stalin-Pakt gegeben.

Heute bedroht der Irak die zivilisierte Welt. Und je mehr sich eine Entscheidung der Vereinten Nationen hinauszögert, desto mehr wird die zivilisierte Welt sich vom Irak und seinen Massenvernichtungswaffen bedroht fühlen.

Und was sagen Sie zu der Kritik, daß die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas heute genauso unkritisch auf Pfiffe aus dem mächtigen Washington reagieren würden, wie sie früher auf die Befehle aus Moskau gehört hätten?

Ojuland: Diese Dinge sind überhaupt nicht vergleichbar. Wir haben nicht freiwillig auf Anweisungen auf Moskau gehört, wir waren gezwungen, den Befehlen von dort zu gehorchen. Wenn wir heute eng mit den USA und mit europäischen Ländern zusammenarbeiten, tun wir das auf freiwilliger, gleichberechtigter Basis. Niemand zwingt uns dazu, Mitglied der EU oder Nato zu sein. Das ist unsere eigene Entscheidung.

Anfrage aus Washington

Hat Washington in Tallinn auch schon um militärische Unterstützung für den Fall eines Kriegs gegen den Irak angefragt?

Ojuland: Im Prinzip ja. Aber es gab bisher keine Diskussionen über konkrete Beiträge.

Wie ist die Stimmung unter den Esten zu einem Irak-Krieg?

Ojuland: 80 Prozent der Bevölkerung sprechen sich gegen einen Krieg aus. Auch unsere Regierung hofft sehr, daß die Irak-Krise, die Entwaffnung Saddam Husseins, ohne Militäraktion gelöst wird. Dazu muß der Irak die Auflagen der UNO vollständig erfüllen. Irak kann einfach nicht damit weitermachen, den Rest der Welt anzulügen und irrezuführen, wie er das die vergangenen elf Jahre getan hat und weiter versucht.

Am 14. September gibt es ein Referendum über Estlands EU-Mitgliedschaft. Die Sache scheint noch nicht gelaufen. Aus welchem Grund sind so viele Esten so EU-skeptisch?

Ojuland: Es sind sehr grundsätzliche Fragen, die die Leute stellen. Wie kann eine kleine Nation wie Estland mit 1,4 Millionen Menschen in einer großen Union überleben? Können unsere Kultur, unsere Sprache in einer so großen Union denn geschützt werden? Wird die Stimme eines kleinen Landes in Brüssel denn auch angehört?

Und es gibt auch eine Reihe sozialer Fragen: Hält die Entwicklung der Verbraucherpreise oder der Pensionen mit der allmählichen Anpassung an das EU-Niveau mit?

Angst vor Identitätsverlust

Nichtsdestotrotz: Die Zahl der EU-Befürworter ist zuletzt gestiegen, sie liegt jetzt über der 50-Prozent-Marke - genau 57 Prozent nach einer jüngsten Umfrage. Das heißt aber nicht, daß unsere Arbeit getan ist: Wir müssen die Menschen weiter über die Konsequenzen der Mitgliedschaft informieren.

Könnte eine Gegenmaßnahme gegen den befürchteten Identitätsverlust die engere regionale Kooperation im baltischen Raum sein?

Ojuland: Die Zusammenarbeit zwischen den baltischen Staaten wird in den ersten Jahren der Mitgliedschaft sehr eng sein, denn wir werden mit sehr ähnlichen Problemstellungen konfrontiert sein. Längerfristig sehe ich eine engere Kooperation vor allem zwischen den EU-Anrainerstaaten der Ostsee. Man braucht sich nur die wirtschaftliche Entwicklung dieser ganzen Region anzusehen, um zu merken, wieviele Gemeinsamkeiten und gemeinsame Aufgaben es hier gibt. Solche regionale Kooperation wird innerhalb der EU immer wichtiger werden.

Sie haben sehr scharf auf einen Brief des russischen Außenministers Igor Iwanow an die EU reagiert, in dem er Sorgen hinsichtlich der Bedingungen der russisch-sprachigen Bevölkerungsteile in Estland und Lettland äußerte. Sie bezeichneten den Brief als "dümmlich". Warum so scharf?

Ojuland: Am ersten Tag meines Amtsantritts vor genau einem Jahr habe ich angekündigt, daß ich pragmatische Beziehungen mit Rußland wünsche. Ich habe auch zugegeben, daß das seine Zeit brauchen wird, weil in vielen Büros unserer Ministerien in Tallinn noch immer altes Denken vorhanden ist. Und dann erweist sich der russische Außenminister selbst als Exponent dieses alten Denkens. Das hat mich geärgert. Minister Iwanow weiß ganz genau, daß die Situation der russisch-sprachigen Personen in Estland ganz gut ist, vor allem wenn man sie mit den Bedingungen in Rußland vergleicht.

Ich bin aber nach wie vor überzeugt, daß das künftige Nato- und EU-Mitglied Estland ein wertvoller Partner für Rußland sein kann.

Was vermuten Sie als Grund für Iwanows Rückfall in altes Denken?

Ojuland: Ich weiß nicht, woher der Wind da wehte. Gleichzeitig sehe ich die Entwicklungen unserer Beziehungen zu Rußland realistisch: Das kann nicht so schnell gehen, es gibt auf beiden Seiten immer noch viel zu viele Emotionen. Das ist natürlich, denn die Geschichte kann nicht vergessen werden und sollte es auch nicht. Auf der anderen Seite sollten wir aber verstärkt über gemeinsame Zukunftsprojekte nachdenken.

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