Nato-Weichenstellungen im zugigen Reykjavik

Die westliche Allianz stellte ihre Zusammenarbeit mit Rußland auf eine neue Basis; auch andere wichtige Entwicklungen wurden jetzt in Island eingeleitet.

Reykjavik, die zugige Inselhauptstadt mitten im Nordatlantik, war zu Wochenbeginn nicht zum ersten Mal Schauplatz einer Weichenstellung zwischen dem Westen und Moskau: Im Oktober 1986, beim vielbeachteten zweiten Zusammentreffen des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan mit dem Sowjetführer Michail Gorbatschow scheiterte zwar eine Einigung über weitere Abrüstungsschritte im Bereich der strategischen Atomwaffen. Grund: die Rüstungspläne der Amerikaner im Weltraum ("Star Wars"). Doch damals, in Island, brach das Eis zwischen den beiden Politikern. Schon ein Jahr später unterzeichneten sie ein Abkommen über die Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenwaffen (INF).

Auch diese Woche wurden in Reykjavik Weichen gestellt: Die 19 Außenminister des Nordatlantikpaktes und Rußlands Vertreter Igor Iwanow einigten sich auf die vertraglichen Grundlagen eines neuen Kooperationsforums: der neue Nato-Rußland-Rat wird den seit fünf Jahren bestehenden Ständigen Gemeinsamen Rat ersetzen. Wichtige Neuerungen sind:

[*] Die Statusfrage: Die bisherige Formel lautet "19 + 1" (Nato plus Rußland), jetzt heißt sie: "zu 20" (Rußland sitzt gleichberechtigt mit am Tisch). In die Sitzungen des bisherigen Rates gingen die Nato-Vertreter stets mit zuvor untereinander abgestimmten Positionen. Im neuen Rat aber soll jedes Land für sich selbst sprechen. Rußland sitzt als gleichberechtigtes Mitglied nach dem Alphabet zwischen Portugal und Spanien am Tisch. [*] Die Tagesordnung: Über Terrorismus-Bekämpfung und Maßnahmen gegen die Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen konnten die Nato-Vertreter und Rußland auch schon im bisherigen Forum miteinander reden, ebenso über Krisenmanagement und vertrauensbildende Maßnahmen. In der Frage der Terrorbekämpfung und der Proliferation wird dabei von entscheidender Bedeutung sein, wie weit die Bereitschaft der Russen geht, auch "sensible Informationen", also Geheimdienst-Erkenntnisse, auszutauschen.

Im künftigen Rat soll weiters über Rüstungskontrolle, Raketenabwehr, Such- und Rettungsmissionen auf hoher See, Zivilschutzplanungen sowie allgemein über "neue Bedrohungen und Herausforderungen" gesprochen werden. Nato-Vertreter heben hervor, daß Rußland sich bereit erklärt habe, im Rahmen des neuen Forums auch über Militärdoktrinen und Militärreformen zu sprechen.

[*] Die Arbeitsweise: Der neue Rat wird sich mindestens einmal im Monat auf Botschafterebene treffen, ein Vorbereitungskomitee setzt sich mindestens zweimal im Monat zusammen. Russische Vertreter ziehen ins Nato-Hauptquartier in Brüssel ein.

[*] Das Vetorecht: Jedes Nato-Mitglied hat das Recht, bei Fragen, die im neuen Rat diskutiert werden, ein Veto einzulegen - und zwar dann, wenn es glaubt, daß der entsprechende Informations- und Meinungsaustausch mit Rußland den eigenen Interessen schaden könnte. Zugleich wird von Nato-Seite betont, daß Rußland im neuen Rat kein Einspruchsrecht eingeräumt bekomme, mit dem es die Arbeit der Nato lähmen könne.

Das Abkommen über den neuen Nato-Rußland-Rat wird am 28. Mai bei einem Sondergipfel der Nato-Staats- und Regierungschefs mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin unterzeichnet. Die Übereinkunft enthält drei Teile: eine öffentliche Erklärung; ein Arbeitsprogramm, das nur einem beschränkten Kreis zugänglich gemacht wird; ein Dokument über die Arbeitsregeln und -prozeduren des Rates.

Rußlands Außenminister Iwanow wertete die Übereinkunft von Reykjavik als "radikal neuen Schritt in unseren Beziehungen". Skeptiker halten entgegen, daß erst die Praxis zeigen werde, ob die Zusammenarbeit zwischen der Allianz und Moskau damit tatsächlich auf einer qualitativ neue Ebene sei und Früchte tragen werde.

In Reykjavik wurde aber nicht nur der Nato-Rußland-Rat aus der Taufe gehoben, sondern auch andere wichtige Entwicklungen eingeleitet:

[*] Die Nato muß mobiler und globaler werden: Der 11. September habe die jahrzehntelang Debatte, ob die Nato auch außerhalb der Bündnisgrenzen aktiv sein dürfe ("out-of-area-debate") endgültig beendet, meinte ein hoher US-Vertreter in Island: "Die Nato muß künftig darauf vorbereitet sein, überall dort operativ zu werden, von wo Gefahren ausgehen." Für die militärische Praxis der Nato heißt das: beschleunigter Aufbau von hochmobilen, auch in großen Entfernungen einsatzbereiten, sich längere Zeit selbst versorgenden, mit modernsten Waffen ausgestatteten Einheiten.

[*] Modernisierung oder Marginalisierung: Wenn das Bündnis keine Anstrengungen mache, sich zu modernisieren, werde es halt marginalisiert, warnte Nato-Generalsekretär George Robertson. Gerade der Luftkrieg gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 förderte eine Reihe von militärisch-technischen Defiziten der europäischen Nato-Staaten drastisch zutage: bei den Präzisionswaffen, bei den Aufklärungs- und Führungsmitteln, bei den Systemen zur Störung der feindlichen Luftabwehr, beim strategischen Luft- und Seetransport. US-Außenminister Colin Powell erwähnte in Reykjavik eine Liste von 58 Unzulänglichkeiten und Defiziten, die noch bis zum Prager Nato-Gipfel im Spätherbst auf fünf bis sechs reduziert werden müßten.

[*]Nato-Erweiterung: Die Minister scheuten davor zurück, in Reykjavik konkrete Namen in Zusammenhang mit der nächsten Nato-Erweiterungsrunde zu nennen. Wiederum war lediglich von einer "robusten Erweiterung" die Rede. Nach wie vor ist in Nato-Kreisen aber von einer Einladung an die drei baltischen Republiken, an die Slowakei, Slowenien, Rumänien und Bulgarien die Rede.

Wobei es bei allen diesen Ländern auch nach wie vor Fragezeichen gibt: bei Estland, Lettland und Litauen wegen der noch immer bestehenden Vorbehalte Moskaus; bei Slowenien, Rumänien und Bulgarien, weil sie mit den militärisch notwendigen Anpassungen im Verzug sind; bei der Slowakei schließlich, weil Vladim­r Meciar ante portas steht. In den Kreis der offiziellen Nato-Aspiranten wurde in Reykjavik auch Kroatien aufgenommen; zu den Aspiranten gehörten bereits Albanien und Mazedonien.

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