Ist Latein nutzlos oder kostbar?

Der Begriff „kostbare Nutzlosigkeit“ markiert sehr gut die Trennlinie zwischen Bildung und Ausbildung.

Versuchen wir für einen Moment einmal ein gedankliches Experiment und stellen uns vor, es gäbe in unserem Land bei sonst gleich gebliebenen Rahmenbedingungen noch gar kein funktionierendes Bildungssystem. Keine allgemeine Schulpflicht und schon gar keinen dreistufigen Schulaufbau. Da wird eine neue Regierung gewählt, die in ihrer Weisheit beschließt, die klügsten Köpfe des Landes zu beauftragen, ein Bildungssystem zu entwerfen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde diese Kommission eine allgemeine Schulpflicht vorschlagen, und es spricht einiges dafür, dass sie auch die Gliederung in Pflichtschule, höhere Schule und Hochschule empfehlen würde. Aber würde sich Latein als Unterrichtsfach finden? Mit Sicherheit nicht. Latein hätte gegen moderne Fremdsprachen von Spanisch bis Chinesisch nicht den Funken einer Chance.

Die noch immer starke Stellung Lateins im derzeitigen Fächerkanon und das damit leider vielfach verbundene Schreckenspotenzial dieser Sprache geht auf Faktoren zurück, die weit in die Vergangenheit weisen: Weil die Gymnasien in einer Zeit „erfunden“ worden sind, in der Latein noch Amtssprache gewesen ist, weil die Kirche lange Zeit die Avantgarde im Bildungssystem gewesen ist und weil das gesamte Bildungsgut damals Antike-zentriert gewesen ist, was auch den Griechisch-Unterricht selbstverständlich gemacht hat. Aus einer Mischung aus Überzeugung, Traditionsbewusstsein, Vorsicht und Trägheit heraus hat sich da innerhalb von zweihundert Jahren wenig verändert. Nicht nur in Europa. Der junge Uni-Absolvent John F. Kennedy musste seine Graduierungsrede in Harvard noch in frei vorgetragenem Latein halten!

Nützlichkeitsargumente völlig falsch

Ich selbst zähle mich in der Frage zu den Überzeugungstätern. Allerdings halte ich alle Versuche, Latein mit Nützlichkeitsargumenten der banalsten Art zu verteidigen, für völlig falsch. Man hat zwar beim Lernen von Französisch oder Italienisch als Lateiner einen kleinen Vorteil, aber der Vorteil ist so gering – mit zwei Wochen Intensivurlaub im Land hat man den spielend wettgemacht –, dass er keine einzige Schülerträne und keinen einzigen elterlichen Nachhilfe-Euro wert ist. Mir wäre um jede Lateinstunde leid, wenn ihr Hauptergebnis nur das Faktum wäre, dass ich weiß, woher die Begriffe Legislative und Exekutive stammen. Ich verwende ja auch das Wort Kuddelmuddel, ohne zu wissen, woher es kommt, und ich betrachte es nicht als Bildungslücke, wenn man nicht weiß, welcher delikate weibliche Körperteil sich hinter dem altgriechischen Wort Hysterie verbirgt. Sicher alles ganz nett und brauchbar, aber wenn das das Wesentliche gewesen wäre, hätte ich statt Latein und Griechisch doch besser Englisch und Französisch gelernt. Der wahre Wert des Lateinischen speist sich aus zwei ganz anderen Quellen. Eine davon kann man durchaus in die Kategorie „nützlich“ einordnen, die zweite sicher nicht.

Als junger Recruiter bei IBM Ende der Sechzigerjahre – in der Zeit habe ich mir übrigens manchmal gewünscht, den „Economist“ zumindest so problemlos lesen zu können wie Ciceros „Pro Milone“ – habe ich mich viel mit der Frage beschäftigt, ob es über die Aussagekraft von Zeugnissen, Testergebnissen und dem persönlichen Gesprächseindruck hinaus noch Parameter gibt, die die Treffsicherheit der Personalauswahl erhöhen können. Dabei bin ich auf eine kleine Studie der damaligen Hochschule für Welthandel gestoßen, die den Zusammenhang zwischen absolviertem Mittelschultypus und Hochschulerfolg untersucht hat. Mit einem interessanten Ergebnis: Im ersten Studienabschnitt haben Handelsakademiker die Nase vorn. Im zweiten ziehen Abgänger von humanistischen Gymnasien an allen anderen vorbei. Herodot und Vergil schlagen „Kaufmännisches Rechnen“ und „Buchhaltung“! Nicht im Einzelfall natürlich, aber im statistischen Mittel. Ich weiß nicht, wie methodisch sauber der Studienautor gearbeitet hat und ob die österreichische Bildungsforschung solche Zusammenhänge je großflächiger untersucht hat. Aber dass die alten Sprachen ein Ausmaß an Denkdisziplin und Denkpräzision erfordern, das nur noch mit Mathematik vergleichbar ist, ist für mich evident. Das sind die Fächer, die für das Gehirn Sauerstoff in seiner reinsten Form bedeuten. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass Mathematik und Latein immer die Furchterregungs-Hitlisten anführen.

Es ist nur einfach schön

Ich erinnere mich nicht mehr, in welchem seiner Bücher Thomas Mann den Begriff geprägt hat, der in wunderbarer Weise die zweite Quelle beschreibt, die den Wert der lateinischen Sprache speist: Die „kostbare Nutzlosigkeit“. Der Begriff markiert auch sehr gut die Trennlinie zwischen Bildung und Ausbildung. Ich bin überzeugt, dass man „Julius Cäsar“ im Burgtheater mit anderen Augen sieht, wenn man seine Schriften im Original gelesen hat. Und dass man auf dem Forum Romanum mit einem anderen Gefühl steht, wenn man Ciceros Reden gegen Catilina auch nur mehr aus sehr großer Entfernung im Ohr hat. Wir werden deswegen nicht dynamischer, nicht erfolgreicher und auch nicht souveräner. Es ist nur einfach schön. Wie eine Arie des Nemorino oder eine Plastik von Rodin.

Viele mögen dafür kein Sensorium haben. Das ist keine Katastrophe. Henry Ford hat Geschichte als Müll bezeichnet. Trotzdem ist aus ihm auch etwas geworden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2007)

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