Wien– New York, retour

Ihr Name stand für Nachkriegs- optimismus, die Träume von Freiheit, Jugendlichkeit, begleitet von einem Hauch Erotik: Elly Niebuhr – Modefotografin, Kommunistin, Jüdin aus Wien. Begegnung mit einer Vergessenen.

Wir sitzen seit über einer Stunde auf dem Balkon und plaudern. Plötzlich blickt mich Elly Niebuhr an und sagt: „Hübsches Gesicht. Sie haben ein hübsches Gesicht.“ Kurzes Schweigen. Dann ergänzt sie, wie zur Erklärung: „Als Fotografin brauchst du einen guten Blick. Ich war es gewohnt, den Leuten in die Augen zu schauen. Und ich war es gewohnt, angeschaut zu werden. Schon damals in Amerika.“ Damals, das war die Zeit, als Elly jung war, als sie in New York als Porträtfotografin angefangen hatte, während des Zweiten Weltkriegs.

Wenn Elly Niebuhr von New York berichtet, richtet sie ihren Oberkörper ein wenig mehr auf, spricht schneller und ihre Augen leuchten. New York, das war, so erinnert sie sich, „eine schöne, eine interessante Zeit“. Acht Jahre hat Elly Niebuhr in New York verbracht. Ende der Vierzigerjahre kam sie zurück nach Wien. Sie war Mitte 30, als sie in Österreich noch einmal von vorne anfing. Und noch einmal nahm sie – teils bereitwillig, teils zögernd – jene Rollen an, die in wechselnden Verbindungen ihr ganzes Leben kennzeichnen sollten. Da ist Elly Niebuhr, die assimilierte Wiener Jüdin, der die Nazis den Stempel der Minderwertigkeit aufgedrückt und die sie zur Flucht gezwungen hatten. Da ist Elly Niebuhr, die überzeugte, später zweifelnde Kommunistin, die bis heute überzeugte Linke. Und schließlich ist da Elly Niebuhr, die damals erfolgreiche, aber inzwischen fast vergessene Modefotografin, die mit ihren Bildern die Traumwelt von Schönheit, Begehren und Konsum bediente.

Wie gehen all diese Rollen zusammen? Wer ist Elly Niebuhr? Das wollte ich wissen, seit mir ihr Sohn, von der wechselvollen Lebensgeschichte seiner Mutter erzählt hatte. In einer E-Mail hat er mir zunächst das chronologische Grundgerüst dieser faszinierenden Biografie zusammengestellt: „Elly Niebuhr-Gellert, geboren am 25. März 1914 in Wien, Besuch der Mittelschule (Frauenerwerbsverein) in Wien, danach Ausbildung als Fotografin im Porträtstudio von Frau Hella Katz, Stubenring 18, parallel dazu Ausbildung an der Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt, erzwungener Abbruch 1938 nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten, Flucht in die USA, verheiratet mit Hans Niebuhr (Matrose), arbeitete in New York als Porträtfotografin, 1948 Rückkehr nach Wien, 1950 zweite Ehe mit einem Journalisten, 1951 Geburt des Sohnes, arbeitete zuerst als Porträtfotografin, ab den späten 1950er-Jahren vor allem als Presse- und Modefotografin.“

An einem Mittwochnachmittag fuhr ich nach Wien-Döbling, durchschritt die langen Gänge eines Seniorenheims, stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf und klopfte an die Zimmertür, die mir der Portier genannt hatte. Es öffnete eine kleine, zierliche Frau von elegantem Aussehen. Was mir gleich auffiel: ihre schöne Halskette mit großen, roten Kugeln, ihr dichtes weißes Haar, das sie sehr kurz trägt. Ihr Blick war neugierig und gar nicht verschreckt. „Kommen Sie herein“: Mit diesen Worten empfing mich die 93-Jährige.

Zwei Stunden später verabschiedete ich mich. Der Kaffee, der irgendwann und ohne unser Zutun auf unserem Tischchen gelandet war, stand immer noch ungetrunken da, der Kuchen ungegessen. Als ich wieder auf die Straße trat, war ich verwirrt. Ja, wir hatten uns unterhalten, sehr gut sogar angesichts des Umstandes, dass zwei Fremde einander gegenübersaßen. Aber ich gebe zu: Es will mir nach dieser Begegnung nicht recht gelingen, das Leben der Elly Niebuhr in eine hübsche Chronologie zu bringen. Wir haben viel geredet. Miteinander, durcheinander, aneinander vorbei. Sie schweifte ab, ich schweifte ab, manches Ereignis hörte ich dreimal, viermal. Dann wieder sehr große Gedächtnislücken. Elly Niebuhr leidet an Demenz. Frage: Haben Sie in den 1930er-Jahren in Wien den Antisemitismus gespürt? Sie schaut mich lange an, denkt angespannt nach: „Ich weiß es nicht. Ich kann diese Frage nicht beantworten.“ Dann schweigt sie, schließlich kommt sie noch einmal auf die Frage zurück. „Es ist merkwürdig, wie schlecht mein Gedächtnis ist.“

Aber manche Dinge weiß Elly Niebuhr noch ganz genau. Sie erinnert sich – kaum verwunderlich – weit besser an die Dinge in ihrem Leben, die gut gegangen sind, als an jene, die schmerzhaft waren. So weiß sie etwa, dass sie Wien nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Richtung England verließ. Auch ihrer Schwester gelang die Flucht. Die Eltern – das erzählt sie nicht, ich erfahre es aber von ihrem Sohn – blieben länger in Wien. So lange, bis es zu spät war. Sie wurden beide ins Konzentrationslager gebracht. Ihre Spuren verlieren sich irgendwo in Ungarn.

England, die erste Station ihrer Flucht. Hier hat Elly Niebuhr zuerst als Putzfrau, dann als Küchenhilfe in einer Methodistenschule gearbeitet. Dann New York: Hier hat sie ihren ersten Mann kennengelernt, Hans Niebuhr, einen deutschen Matrosen und Gewerkschafter. So hat sie ihn in Erinnerung: „Norddeutsch, blond, mit hellen Augen.“ Aber viel berichtet sie nicht von ihm. Die Ehe ging nach wenigen Jahren auseinander. „In New York begann ich“, erzählt sie, „als Fotografin in einem Fotostudio namens Lorstan, ganz in der Nähe des Times Square.“ Das Geschäft ging gut während des Kriegs. Viele Soldaten, die ins Feld zogen, aber auch Angehörige, die zurückblieben, wollten fotografische Erinnerungen mitnehmen. Sie wurden im Erdgeschoß in Empfang genommen, zur Auswahl standen Porträts zwischen 50 Cent und 2,50 Dollar. Abgelichtet wurden sie im ersten Stock, in zwei Studios. Hinter der einen Kamera stand Elly Niebuhr, hinter der anderen eine weitere junge Emigrantin aus Österreich, Edith Fahle. Die Arbeit erfolgte schnell, effizient, wie am Fließband. „Aber“, berichtet Elly Niebuhr, „die Arbeit hat mir sehr gut gefallen. Edith und ich haben viel miteinander geplaudert.“

Elly Niebuhr war Mitte 20, als sie in New York ankam. Sie blieb acht Jahre. Warum hat die junge Frau das Land, das ihr die Rettung und bescheidenen beruflichen Erfolg brachte, wieder verlassen? „Die Geschäfte gingen nach dem Krieg schlecht“, sagt sie. Aber war es nur das, was sie zur Rückkehr nach Wien bewog? In eine Stadt, die zerstört war und weit ärmer als New York und in der sie selbst, wie sie sagt, anfänglich unter anderem von amerikanischen Care-Paketen gelebt hat? In der Emigration war sie, auch darüber erzählt sie nur wenig, zur Kommunistin geworden. „Ich war“, das sagt sie mit Stolz, „immer eine Linke.“ Elly hatte sich in New York fast ausschließlich unter „ihresgleichen“ bewegt, kommunistischen, jüdischen, österreichischen Emigranten. Die österreichische KP drängte nach 1945 darauf, dass die Genossen zurückkehrten. 1947/48 kam zudem die antikommunistische Hetze der McCarthy-Ära auf ihrem Höhepunkt an. Die Ehe mit Hans Niebuhr war bereits auseinandergegangen. In New York hielt sie nichts mehr. „Ich war“, meint sie, „zu alt, um in Amerika noch wirklich Fuß fassen zu können.“

Ihre Mutter, erzählt sie, war eine orthodoxe, musisch begabte Jüdin. Die Familie lebte in ihrer Wohnung im vierten Wiener Gemeindebezirk ein einigermaßen bürgerliches Leben: Man leistete sich sogar eine Hausangestellte. Elly sollte, bevor sie ihren künstlerischen Leidenschaften, dem Zeichnen und vor allem der Fotografie, nachgehen konnte, ein „richtiges Handwerk“ erlernen. So ging sie bei einer Miedermacherin in die Lehre und begann erst danach ihre Fotografenausbildung. Sie wusste auf Anhieb: Die Fotografie, das war ihre Welt.

Wien, Ende der 1940er-Jahre. Hier lernt sie ihren zweiten Mann kennen, auch er Emigrant und Kommunist, von Beruf Schweißer, später wechselt er zum Journalismus. 1950 heiraten die beiden, ein Jahr später kommt der Sohn zur Welt, kurz darauf zerbricht auch diese Ehe. „Ich war mit meinem Beruf verheiratet“: Das wiederholt Elly Niebuhr immer wieder, als ob sie damit auch all ihre anderen brüchigen und zerbrochenen Verbindungen überdecken wollte.

Wien in den 1950er-Jahren. Elly Niebuhr beginnt wieder mit dem Fotografieren: zunächst Kinderporträts im privaten Kreis, dann bietet sie ihre Bilder auch Zeitungen an, zunächst den linken Blättern in ihrem engeren politischen Umfeld. Als Pressefotografin interessiert sie sich vorerst für politische Ereignisse, Straßenszenen, den Wiederaufbau in Wien. Aber bald schon spezialisiert sie sich auf Modebilder, übernimmt Firmenaufträge.

Das Jahr 1955 wird für Elly Niebuhr zum Wendejahr – im Privaten, im Beruflichen, im Politischen. Sie trennt sich von ihrem zweiten Mann. Als Fotografin übernimmt sie bewusst den Namen ihres ersten Mannes. „Niebuhr war ein guter Name“, erinnert sie sich. „Kein Fotograf in Wien hieß Niebuhr.“ Sozial und politisch isoliert, legt sie in diesen Jahren auch das Korsett der parteipolitischen Orthodoxie ab. Sie hat nun keine Scheu mehr, ihre Fotos der „bürgerlichen“ Presse anzubieten, die mehr Bilder druckt und (meist) auch besser bezahlt.

Elly Niebuhr arbeitet allein, eröffnet in ihrer Wohnung ihre Ein-Frau-Firma. Die Dunkelkammer richtet sie in der eignen Küche ein, im ehemaligen elterlichen Schlafzimmer das Atelier, die Kameras, die Beleuchtung, später die Blitzanlage stehen im Wohnzimmer. Kleinere Aufträge werden daheim bei künstlichem Licht erledigt, große im Freien, im Prater, in Schönbrunn, im Wienerwald. Das Geschäft floriert. Die Marke „Elly Niebuhr“ steht in der Mode für den Nachkriegsoptimismus, die Träume von Freiheit, Unbekümmertheit, Schönheit, Jugendlichkeit, und sie ist stets durchsetzt mit einem Schuss Erotik.

Niebuhr fotografiert für Anzeigenkampagnen, Kataloge, Plakate und Modeschauen. Alle sind sie Kunden bei Elly Niebuhr, die großen und kleinen Modehäuser, Boutiquen und Kaufhäuser des Nachkriegsösterreichs: Steffl, Gerngross, Herzmansky, Stafa, Forum, Tivoli, Adlmüller, Gazelle, Palmers, Haider-Petkov, Resi Hammerer, Tostmann und viele andere. Beim Blättern durch die damaligen Tages- und Wochenzeitungen begegnet uns ihr Name ständig. Im „Express“, im „Kurier“, in der „Presse“, in der „Kronen Zeitung“.

„Ich habe mit Spitzenmannequins gearbeitet“, sagt Elly Niebuhr stolz. „Ein Mannequin muss begabt sein, und du musst einen guten Blick für sie haben. Du bist von ihr abhängig.“ An eine von ihnen kann sie sich besonders gut erinnern, an Charlotte Telkes, eine junge Ungarin. „Sie hatte viel Temperament. Ihr verdanke ich einen Teil meiner Karriere.“ Elly Niebuhr hat fast nur Frauen fotografiert. Sie beherrschte den Spagat zwischen Auftragswünschen, Exzentrik, Extravaganz und populären Konsumträumen perfekt. Elly Niebuhr inszenierte Mode, die sich verkaufen ließ. Sie hatte hohe Ansprüche, aber Künstlerin wollte sie keine sein.

Seit 20 Jahren ist Elly Niebuhr in Pension. Ihr Fotoarchiv aus der Nachkriegszeit ist großteils erhalten. Schachteln von Abzügen, Tausende von Negativen lagern heute bei ihrem Sohn. Es wäre hoch an der Zeit, dieses Bildarchiv der österreichischen Populärkultur in einer öffentlichen Fotosammlung zu erhalten. Und der Fotografin selbst sollte man eine Ausstellung einrichten. Nicht um aus Elly Niebuhr eine Künstlerin zu machen, sondern um ihre Lebensgeschichte festzuhalten, die hinter ihren eigenen, fröhlichen Modebildern verborgen liegt.

Würde sich Elly Niebuhr über eine solche späte Ehrung freuen? Wer weiß. Kurz bevor ich an jenem Mittwochnachmittag aufbreche, zeige ich ihr eine kleine Auswahl ihrer Fotos aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Sie nimmt sie in die Hand, schaut genau hin und sagt dann: „Gute Bilder, wunderbar! Wer hat die gemacht?“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.10.2007)

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