Die stille Neuerin

Ihre Revolution war keine pädagogische, sondern eine poetische: Erica Lillegg (1907 bis 1988) und das Fantastische in der österreichischen Kinderliteratur. Erinnerung an eine Vergessene.

Angesagte Revolutionen findennicht statt. Als die eigentliche Revolution der jüngeren Kinderliteraturgeschichte, damit ist die gesamte Epoche von 1945 bis heute gemeint, ist die Entwicklung der Fantastischen Erzählung Mitte der 1950er-Jahre anzusehen, darüber sind sich Kinderbuchexperten heute einig. Sie war als literarische Innovation vielleicht folgenreicher als die literarischen Begleiterscheinungen der politisch weitreichenden Revolution von 1968.

Mit der Revolution von 1968 entwickelte sich ein völlig neues Jugendbild und in der Folge auch eine anhaltend neue Jugendliteratur, nicht aber eine wirklich neue Kinderliteratur. Das, was um 1968 als antiautoritäre Erziehung heftig diskutiert und praktiziert wurde, war kinderliterarisch in zarten – und wohl auch anders gemeinten – Keimen schon längst angelegt: zunächst in Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ aus dem Jahr 1945 – und dann eben in einer relativ stillen Revolution um 1955, die heute in Vergessenheit geraten ist.

Dennoch hat auch diese Revolution stattgefunden, und zwar als eine literarische, mitgetragen von der Österreicherin Erica Lillegg, 1907, also im selben Jahr wie Astrid Lindgren geboren, deren 100. Geburtstag in diesem Jahr groß gefeiert wurde.

Erica Lillegg, die ein gutes Dutzend Kinderbücher geschrieben hat, gehört zu jenen Literaturschaffenden, die, wenn überhaupt, nur durch ein einzelnes Werk bekannt sind und mit ihrer Bekanntheit gänzlich hinter dieses Werk zurücktreten; bei Lillegg ist es der Roman „Vevi“ aus dem Jahr 1955 – eine Doppelgängergeschichte mit komplexer Handlungsführung, in der das vom Ich abgespaltene Alter Ego der Protagonistin sein Unwesen treibt und erst unter Aufwendung von List und einer Art von Naturmagie wieder unschädlich gemacht werden kann.

Lilleggs bislang immer falsch zitiertes Geburtsjahr sowie viele andere Informationen lagen bisher im Dunkeln und werden gegenwärtig in einer germanistischen Diplomarbeit an der Universität Wien von Vera Nowak aufgearbeitet, von der wir eine ausführliche und durch eingehendes Quellenstudium sowie intensive Befragung der Nachfahren abgesicherte Biografie zu erwarten haben.

In der Fachliteratur des deutschsprachigen Raumes – allerdings nicht in der österreichischen – war Erica Lillegg eine der meistgenannten Repräsentantinnen der Fantastischen Erzählung. Die schweizerische Kinderbuchhistorikerin Bettina Hürlimann sprach erstmals 1959 von einer „kleinen Revolution im deutschen Kinderbuch“. Was in Unkenntnis der Biografie Lilleggs und in dem bei deutschen Literaturkritikern und auch -historikern geläufigen Nicht-so-genau-Nehmen des Unterschiedes zwischen deutsch und deutschsprachig zunächst vielleicht gar nicht so gemeint war, setzte sich durch: Lillegg wurde zur deutschen Autorin – was vielleicht auch darauf zurückzuführen war, dass „Vevi“ bei Ellermann in Hamburg erschien, anderes dann bei Thienemann in Stuttgart.

In Österreich wusste man von Erica Lillegg offenbar nichts, auch nichts von ihrem Mann, Edgar Jené, dem geistigen Vater der Wiener Schule des Fantastischen Realismus, und auch nichts von beider Verbindung zu bedeutenden Persönlichkeiten des Geistes- und Kulturlebens, etwa zu Paul Celan; außerdem war Kinderliteratur als ein Feld literaturwissenschaftlichen Forschens in Österreich noch lange nicht entdeckt. „Vevi“ und andere Werke Lilleggs wurden inzwischen ins Japanische übersetzt, nur in Österreich, vor allem in der österreichischen Fachliteratur hat man die „deutsche“ Autorin vergessen. Nicht so in der österreichischen Verlagsszene: „Vevi“ wurde 1969 im Obelisk Verlag neu aufgelegt, auch Jugend und Volk und der Dachs-Verlag bemühten sich um Lillegg, aber sie blieb, seit Mitte der 1950er-Jahre mit ihrem Mann in Paris lebend, trotz beachtlicher Preise und Auszeichnungen hierzulande eine Unbekannte.

Manche Autorinnen oder Autoren der allgemeinen Literatur lassen (unabhängig davon, ob sie auch Kinderbücher schreiben) ihren männlichen und weiblichen Hauptfiguren nicht nur Kindheitserinnerungen, sondern bisweilen auch sehr ausführliche Kindheitsleseerinnerungen angedeihen. Für Arno Geiger wird in „Es geht uns gut“ der Kinderbuchbestseller „Die drei Stanisläuse“ von Vera Ferra-Mikura fast zu einem Leitfaden des Erzählens. Robert Menasse spricht in „Don Juan de la Mancha“ wiederholt von Karl May, Erich Kästner und Karl Bruckner oder von „Jugendliteratur“ und von „Kinderbüchern“. Paulus Hochgatterer kommt in der „Süße des Lebens“ auf Astrid Lindgren, Mira Lobe und Christine Nöstlinger zu sprechen. Ähnliches Memorieren findet man nicht selten bei Barbara Frischmuth, die unter den österreichischen Literaturschaffenden wohl die ist, die neben ihrer Allgemeinliteratur die meisten Kinderbücher aufzuweisen hat.

Dass all diese intertextuellen Berührungen von allgemeiner Literatur und Kinderliteratur – wie auch die fast schon ritualisierte Thematisierung von Kindheit in der österreichischen Germanistik – allenfalls beiläufig zur Sprache kommen, könnte man als interpretatorische Kindheitsverdrängung verstehen, eine Einstellung, die immer dann, wenn von Kindheit oder Kinderliteratur die Rede ist, die Zuständigkeit in die Pädagogik oder in die Didaktik verschiebt. Bei dieser Ballung von literarischem Kindheitsverhaftetsein müsste hingegen erkennbar werden, dass unter den österreichischen Literaturschaffenden offensichtlich eine (latente) kollektive Prägung stattgefunden hat, die nach individueller Aufarbeitung drängt. Die manifeste Realität dieser Prägung lässt sich durchaus in Form von realen Kollektiven rekonstruieren; vor allem ist dies der Österreichische Buchklub der Jugend, wie er in den 1950er- und 1960er-Jahren die literarische Sozialisation bis in die fernsten Gebirgstäler flächendeckend, konkurrenzlos und marktbeherrschend besorgte. Wer in den Auswahllisten des Buchklubs stand, war „in“, und wer nicht drinnen stand, war „out“, die Lehrerschaft wusste, wo's langging. Innerhalb dieses Großkollektivs bildete sich Ende der 1960er-Jahre die „Gruppe“, eine lose Vereinigung von Autorinnen und Autoren um Mira Lobe, Käthe Recheis und Renate Welsh (anfangs am Rande auch Karl Bruckner und später am Rande auch Christine Nöstlinger), die weniger programmatisch, eher lustvoll sprachbastelnd, aber auch kritisch einander ins Gehege kommend, die Kinderliteratur diskutierten und für sich neu erfanden. Was an Programmatik im Buchklub zu viel war, war in der „Gruppe“ – bei aller Originalität der Einzelleistungen – an kollektiver Profilierung vielleicht zu wenig. Die allmähliche Auflösung der „Gruppe“ verlief zeitgleich mit der nun einsetzenden Kindheitsentdeckung durch die allgemeine Literatur, wie sie oben skizziert wurde.

Erica Lillegg, fast eine Generation älter als die meisten der „Gruppe“ und fern in Paris, war in all diese Kollektiventwicklungen so gut wie gar nicht eingebunden. Das Kollektiv, aus dem ihre Literatur zu verstehen ist, war der Surrealismus, wie er in Österreich in der unmittelbaren Nachkriegszeit diskutiert wurde.

Erica Lillegg war als eine sowohl den Kunstströmungen ihrer Zeit als auch deren Auswirkungen auf Kindheitsfragen gegenüber überaus sensible Autorin so bedeutsam wie Gianni Rodari für Italien, Anna M.G.Schmidt für die Niederlande und Benno Pludra für die DDR. Man könnte mit diesen vier Autoren von einem Autorenquartett europäischer Fortschreibung des Kindheitsbildes von Astrid Lindgren sprechen.

Während aber diese Weiterführung in Italien, den Niederlanden und in der DDR tatsächlich so gesehen wurde, wollte Lillegg in das damalige Bild von Kinderliteratur in Österreich offensichtlich so recht nicht passen. Auf der Suche nach einem Verlag für „Vevi“ wurde sie in Wien abgewiesen. Und näher besehen sind Lilleggs Bücher tatsächlich anders als die anderen, was durch reine Inhaltsangaben nur bedingt erkennbar würde: Denn die besondere Faszination ihrer Bücher liegt eben in der Gestaltungsweise. Sie repräsentieren, im Falle von „Vevi“ ergänzt durch die Illustrationen von Dorothea Stefula, eine sehr singuläre Facette von Modernität. Lilleggs Revolution war keine pädagogische – wie die von 1968 –, sondern eine poetische. Damit steht Lillegg im besten Sinn des Wortes ergänzend neben den anderen hier skizzierten modernen Strömungen, dem Kleinkollektiv der „Gruppe“ und auch dem Großkollektiv des Buchklubs der Jugend. So verdienstvoll das Wirken Richard Bambergers (1911 bis 2007) als Leiter dieser Institution in vielen Belangen war, nicht zuletzt in dem der Leseerziehung, so sehr wurde damit auch eine zeittypische Funktionalisierung von Kinderliteratur in die Wege geleitet, die zu ihrer Zeit modern anmutete, die die Kinderliteratur jedoch auch gegenüber anderen kulturellen Innovationen abschottete.

Die Kinderbuchszene der 1950er- und 1960er-Jahre hat sich ihre ganz eigene kulturelle Optik geschaffen, eine Form der Institutionalisierung, die einerseits einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Bildung der Nachkriegsjugend leistete, sich jedoch auch zur Enklave entwickelte. Dass eine Ferra-Mikura noch wenige Jahre zuvor inmitten des allgemeinen literarischen Geschehens stand und im „Plan“ und in anderen Literaturzeitschriften veröffentlichte, wurde ausgeblendet, und dass eine Käthe Recheis mit ihrem Roman „Schattennetz“ (1964) eine Fortschreibung jener anderen österreichischen Version der Trümmerliteratur versuchte, wie sie Ilse Aichinger 1948 mit der „Größeren Hoffnung“ eingeleitet hatte, verursachte in diesem Kollektiv eher Irritationen.

So wurden auch Lilleggs außerhalb Österreichs höchst erfolgreiche Romane „Vevi“ und „Feuerfreund“ kaum wahrgenommen, obwohl vor allem „Vevi“, das wurde oft genug attestiert, ein zeitloses Werk ist und durchaus in den Klassikerkanon aufgenommen werden sollte. Wir können heute rückblickend von einer Früh-, einer Hoch- und einer Spätphase der Fantastischen Erzählung sprechen, wobei die beiden Zäsuren 1955 mit Lilleggs „Vevi“ und 1970 mit den Anfängen von Christine Nöstlinger gegeben sind. Die Frühphase ist gleichsam als eine allmähliche Ablöse vom Märchen zu verstehen, die Hochphase als ein ganz eigenständiges Genre, das zunehmend auch soziale Problemthemen zum Gegenstand hat, und die Spätphase als ein allmähliches Aufgeben der Konturen zwischen Fantastischer Erzählung und Fantasy, deren Unterscheidung heute oft schon von Fachleuten ignoriert wird. Was die Fantastische Erzählung eigentlich war, könnte durch eine Neuauflage von „Vevi“ in Erinnerung gerufen werden.

Die Entdeckung des lange gesuchten Nachlasses von Erica Lillegg, der vor nunmehr vier Jahren und – wie meist in solchen Fällen – sehr zufällig gefunden wurde, brachte eine ganze Menge an Unbekanntem zum Vorschein, nicht zuletzt ihre korrekten Lebensdaten: geboren am 18. Jänner 1907, gestorben am 12. Dezember 1988.

Alles, was an Erinnerungsarbeit 2007 anlässlich des 100. Geburtstages von Erica Lillegg nicht geleistet wurde, sollte 2008 anlässlich ihres 20.Todestages in Angriff genommen werden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2007)

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