Die Welt bis gestern: 1. Mai 1968: Die Revolte scheiterte an Blechbläsern

Er predigte auf den Straßen, aber auch in Berliner Kirchen: Rudi Dutschke, gläubiger Christ.
Er predigte auf den Straßen, aber auch in Berliner Kirchen: Rudi Dutschke, gläubiger Christ.(c) AP
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In aller Welt gehen die Studenten auf die Straßen. In Wien dagegen darf ein Blasmusikfest auf dem Rathausplatz nicht gestört werden.

Vor vierzig Jahren war die Welt in Aufruhr: Die Bauernguerilla in Vietnam trat unter kommunistischer Führung auf, um gegen die USA, die stärkste Militärmacht der Welt, anzutreten. Der Präsident hieß zwar bereits Lyndon B. Johnson, aber den Anfang dieses blutigen Schlamassels hatte ausgerechnet das früh verstorbene Idol der jungen Generation, John F. Kennedy, verursacht.

Am 16.März1968 waren US-Soldaten mit einer Kaltblütigkeit sondergleichen in das vietnamesische Dorf My Lai eingefallen. Binnen weniger Stunden töteten sie hunderte Zivilisten. Ein Aufschrei ging durch die Welt. Im Zeitalter der Funk- und Fernsehbilder war ein solches Massaker nicht mehr zu verheimlichen.

Hunderttausende von Studierenden, Schülern und Auszubildenden gerieten in Bewegung und radikalisierten sich. In Frankreich versetzten Millionen Arbeiter mit dem größten Generalstreik der Geschichte ihre Regierung in Panik. Erstmals – und auch nicht woanders wiederholt – demonstrierten Hochschüler und Arbeiter gegen das Establishment.

In Prag glaubte die Jugend an ein gutes Ende des riskanten Experiments Alexander Dubceks. Der Generalsekretär der KP der CSSR wurde zum Idol der reformorientierten Studenten. Für kurze Zeit, wie der weitere Verlauf dieses Jahres noch zeigen sollte.

Die Schwarzen in den städtischen „Ghettos“ der USA erhoben sich gegen den Rassismus und die Ermordung Martin Luther Kings. Der war am 4.April1968 Opfer eines wirren Fanatikers geworden.

Eine Woche später, am 11.April, schoss in Berlin der Hilfsarbeiter Josef Bachmann mit einem Trommelrevolver dem begabten linken Agitator Rudi Dutschke in den Kopf. Der Feldherr der politisierten Studenten überlebte nur knapp, verlor aber für lange Zeit sein wirkungsmächtigstes Instrument: Sein Sprachzentrum war schwer geschädigt. So war die Stimme des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS gewaltsam zum Schweigen gebracht worden. Und die Solidaritätsdemos für Dutschke putschten das Klima noch weiter auf.

Axel Springer als Feindbild

Paris brannte, Berlin ebenso. Axel Springer war zum „Volksfeind“ geworden, „Bild“-Zeitungen dienten bestenfalls als Fackeln. Das alles vollzog sich in Westberlin, dem Vorposten der westlichen Demokratien. Die Revolte richtete sich – Ironie der Geschichte – gegen die Vätergeneration, die den Töchtern und Söhnen erst jene Freiheit sicherte, in der sie trefflich und völlig ungefährdet dem Mainstream des Antifaschismus huldigen konnten. Der war freilich nicht gewaltfrei: Jürgen Habermas sprach von „linkem Faschismus“. Dass der Zeitungszar Axel Cäsar Springer zu den potentesten Sponsoren Israels zählte, war nur einer von vielen Widersprüchen in diesem Revolutionsjahr.

Und Wien? Da gab's keine „Bild“, keinen Axel Springer, keinen Rudi Dutschke. Aber eine Solidaritätsaktion für den schwerstverletzten Systemkritiker sollte denn doch sein. Eine Gruppe von Aktivisten aus dem „Verband sozialistischer Studenten“ zog zur Oper und durch die Kärntner Straße, protestierte gegen den US-Kriegsherrn Johnson und versuchte mit geringem Erfolg, mit Passanten ins Gespräch zu kommen.

Und löste sich dann ordnungsgemäß auf.

Kreisky in der Zwickmühle

Für den liberal denkenden, aber streng handelnden neuen Parteivorsitzenden der SPÖ, Exaußenminister Bruno Kreisky, trotzdem eine fatale Situation. Der Oppositionsführer musste alles vermeiden, was eventuell bürgerliche Wechselwähler verschrecken könnte. Wollte er doch, dass diese wenigstens „ein Stück des Weges“ mit ihm gingen und 1970 die ÖVP von ihrer absoluten Machtfülle abwählten.

Im Zweifel entschied sich Kreisky daher gegen die eigene Parteijugend. „Eines muss ich – auch den eigenen Studenten – mit aller Deutlichkeit sagen: Wir werden uns die Vernichtung der Demokratie durch eine Handvoll Menschen, die nicht wissen, was aus dem alles werden kann, nicht gefallen lassen!“

Warnung an die Jusos

Der VSStÖ war gewarnt. Wie immer stacheln derartige Verwarnungen Heißsporne erst so richtig an. Man solidarisierte sich mit Facharbeitern der verstaatlichten „Elin“-Werke, die entlassen werden sollten. Denen war das gar nicht recht, weil sie als Spezialisten ohnedies schon wieder neue Jobs gefunden hatten. „Legt die Arbeit nieder“, forderte hingegen ein Studentenflugblatt. Kreisky verlor seinen sonst immer so gelobten brummelnden Gleichmut, bestellte die Radikalinskis zum Rapport in die Parteizentrale, drohte mit Parteischiedsgericht und Stopp aller Zahlungen.

Worauf ein Teil der Wiener VSStÖ-Basis aus Wut die SPÖ verließ. Der Rest musste sich dem kaudinischen Joch beugen, das Kreisky, Zentralsekretär Leopold Gratz und der Wiener Landesparteivorsitzende Felix Slavik listig aufgerichtet hatten: Keine „isolierten öffentlichen Stellungnahmen“, keine eigene Mai-Demo, brave Teilnahme am Mai-Aufmarsch der Wiener Sozialisten.

„Ho-Ho Ho-Chi-Minh“

Die Funktionäre wähnten sich unangreifbar. Für die breite Masse der Genossen traf das auch zu. Jedes Transparent war diesmal von Ordnern genau begutachtet worden – so blieb Ruhe und Ordnung oberste Bürgerpflicht. Vereinzelte Rufe aus den Marschreihen („Ho-Ho Ho-Chi-Minh“ oder „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten“) gingen im Klangteppich der Lautsprecher unter. „Seid lieb zu den Jusos“, stand auf einem Taferl. Auf der Tribüne lachte man. Es war wirklich eine Miniminirevolte.

Und sie endete an diesem denkwürdigen 1.Mai1968 auf eine Weise, wie sie nur in Österreich möglich ist. Wir dürfen sagen: Wir waren dabei – zwei Reporter aus der „Presse“-Lokalredaktion.

Um 15Uhr eröffnete Bürgermeister Bruno Marek (er war zuvor Präsident der Wiener Messe und als solcher „Kommerzialrat“) ein Blasmusikfest auf dem Rathausplatz. Durch den Park näherte sich eine Gruppe von VSStÖ-Aktivisten (und vielen Mitläufern). 150 werden es schon gewesen sein. Sie forderten lautstark eine Diskussion über die Causa „Elin“.

„Heute, an diesem Feiertag...“

Mehr brauchten sie nicht: „Heute, an diesem Feiertag, wo die Wiener sich vergnügen wollen, lehne ich jede Diskussion über den Beschäftigtenstand von Elin ab“, schnaubte der betagte Bürgermeister durch seinen Walross-Schnurrbart. Eine Gruppe „intellektueller Nihilisten“ bereite offenbar hier „eine Himmelfahrt vor“.

15.45Uhr. Gleich sollte die Radioübertragung des Blasmusikkonzerts beginnen. Da konnte man keine Zwischenrufe brauchen. Ausgerechnet Erich Weisbier, Funktionär der Jungen Generation in der SPÖ, musste die Durchsage machen: „In fünf Minuten wird der Platz polizeilich geräumt!“

Natürlich nur von den Krakeelern, meinte der Apparatschik. Und so war es dann auch. Eine Handvoll Polizisten holte sich die Demonstranten aus der Menge – Marek und die Vizebürgermeisterin Fröhlich-Sandner verfolgten das Spektakel von der Tribüne; bewaffnet war die Polizei nicht. Wer konnte auch mit Ausschreitungen bei einer Blasmusik rechnen? Eine kleine Schlägerei, nach sieben Minuten war alles vorbei. Aber dann: Die Aufnahme der Personalien durch Wiener Wachebeamte kann leicht zur chinesischen Folter ausarten, wenn sie es darauf anlegen. Auch der Student Bruno Aigner war als unbeteiligter Zuschauer angehalten worden. „Ich wurde korrekt behandelt“, teilte er tags darauf in einem Leserbrief der „Presse“ mit.

Kreisky forderte anderntags eine persönliche Entschuldigung der Rädelsführer bei Marek. Das taten die nicht. Lieber traten 13 VSStÖler am 2.Mai aus dem Verband aus. So konnte auch Wien stolz der Nachwelt vermelden, die Studentenrevolte habe ihre Opfer gefordert.

Noch zwei Opfer gab's: Uns Reporter aus der „Presse“-Lokalredaktion – viel Platz haben wir für unsere Sensation nicht bekommen...

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2008)

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