„Dein Kind siehst du nimmer“

Erich Hackl ist stets auf der Suche nach Zusammenhängen, Korres-pondenzen, nach dem Myzel einer Geschichte. Oft sind Fotos Ausgangspunkte für seine akribischen Recherchen. In seinem Triptychon „Drei tränenlose Geschichten“ sind Bilder das verbindende Element.

Hätten Victor Klagsbrunn und seine Frau Marta, in deren Wohnung in Rio de Janeiro ein Fußballplakat aus Floridsdorf hängt, nicht den Terror der brasilianischen Militärdiktatur und nahezu 16 Jahre Exil überlebt, gäbe es die erste Geschichte nicht im neuen Buch von Erich Hackl. Sie beginnt mit der eingehenden Betrachtung eines Fotos, das im Jahr 1904 entstanden ist. Nicht in Rio, sondern in Floridsdorf, wo Leo Klagsbrunn, Großvater von Victor Klagsbrunn, mit Kohle, Holzkohle und Koks handelte und im oben genannten Jahr Präsident des FAC war.

Im Jänner 1920 begann die damals 16-jährige Maria Pfeiffer in der Firma von Leo und Fritzi Klagsbrunn als Kontoristin zu arbeiten. Hier wie in den folgenden Passagen der Geschichte der Familie Klagsbrunn zeigt sich die Bedeutung von Fotografien als Dokumente für Hackls Recherchen sowie seine Fähigkeit, aus der Konstellation der Personen und aufgrund ihrer Gestik und Mimik Rückschlüsse auf die „früheren Verhältnisse“ zu ziehen.

Für den Juden Leo Klagsbrunn und seine Familie kommt der Einmarsch der deutschen Truppen nicht unerwartet. Um der Zwangsarisierung zuvorzukommen, bietet er die Firma seiner Mitarbeiterin Maria Pfeiffer zum Kauf an. Sie übernimmt mit ihrem Verlobten die Firma, die Familie Klagsbrunn verlässt Österreich in Richtung Brasilien.

Der Verkauf ist den neuen Machthabern höchst suspekt, und Frau Pfeiffer hat in den folgenden Jahren unter bürokratischen wie politischen Schikanen zu leiden. Die Familie Klagsbrunn, deren Fußfassen in Rio und deren Lebensgeschichten der Spurensucher Hackl im Verlauf der Geschichte vor uns wie einen Stammbaum mit gekappten und arg zerzausten Ästen ausbreitet, hält den Kontakt mit Maria Pfeiffer und ihrer Familie aufrecht.

Lebenswerk von 150.000 Fotos

Einer der Äste wird jedoch, um bei der Baummetapher zu bleiben, einen bizarren Wuchs entwickeln: Der Onkel von Victor wird Fotograf, die Konjunktur des Bildjournalismus beschert ihm eine einzigartige Karriere. Er soll ein egozentrischer Mensch gewesen sein. Seinem Neffen hinterließ er ein Lebenswerk von 150.000 Fotos und Negativen und die Frage nach der Diskrepanz von Leben und Werk; denn sein Desinteresse für den anderen verflüchtigte sich, sobald er durch den Sucher seiner Kamera blickte.

Victors Leben hingegen war alles andere als ein Honiglecken. Er schließt sich nach dem Militärputsch von 1964 mit seiner Freundin Marta der Açao Popular an, einer Organisation, die sich für Demokratie und Landverteilung einsetzt. Anfang September 1969 werden sie festgenommen. Ein langer Leidensweg, einer unter tausenden und abertausenden in den Jahrzehnten der Militärdiktaturen Latein- und Mittelamerikas, beginnt. Beide werden gefoltert, Victor mehrmals auf der sogenannten Papageienschaukel. Marta, von der Folter und von der Haft traumatisiert, wird später ein Gedicht schreiben, ein Versuch, das Erlebte zu bannen. Zu überleben, frei zu sein ist das eine, aber in der wiedergewonnenen Freiheit sich zurechtzufinden ist weitaus schwieriger. Marta, nach einer Odyssee durch mehrere Länder Lateinamerikas und Europas, mit Victor längst wieder in Rio, wo Hackl die beiden auch kennenlernte: „Es war richtig, sich für mehr Gerechtigkeit einzusetzen, und unsere Liebe zu Brasilien, zum Volk, das so viel gewagt hat, dieses Gefühl ist nie ausgestorben. Ich glaube, wir haben alles getan, was damals getan werden konnte.“

Das Medium Fotografie verbindet die erste mit der zweiten Geschichte, „Der Fotograf von Auschwitz“. Hackl erweist sich auch hier als „Stierler“, wie Franz Kain gesagt hätte, also einer, der es nicht nur für nötig erachtet, sondern dem es möglicherweise sogar zur Leidenschaft geworden ist, alte Dokumente zu studieren, betagte Menschen zu befragen, um nach Vergessenem, Unbeachtetem, Verdrängtem zu graben, stets auf der Suche nach Zusammenhängen, Korrespondenzen, nach dem Myzel einer Geschichte, von der nur dort und da etwas an der Oberfläche zu sehen ist.

Gezeichnet wird das Porträt eines polnischen Patrioten mit österreichischen Wurzeln: Wilhelm Brasse, 1917 in Saybusch, polnisch Żywiec (damals noch Galizien), geboren. Besuch des Gymnasiums, Ausbildung zum Fotografen, Meisterprüfung, Eröffnung eines Lichtbildstudios in Kattowitz. Nach dem Polen-Feldzug begannen die NS-Behörden, die Bevölkerung nach rassistischen Merkmalen zu registrieren. Brasse empfand sich als „Pole unter Polen“ und verweigerte, was möglich gewesen wäre, nämlich als arisch eingestuft zu werden. Auf dem Weg nach Frankreich zu General Sikorski, der die polnischen Streitkräfte im Exil organisierte, wurde er festgenommen und nach Auschwitz überstellt, wo er als Fotograf für den sogenannten Erkennungsdienst arbeitete. Dort hatte er in den ersten beiden Jahren vor allem Neuzugänge abzulichten.

Um einigen Sonderwünschen von SS-Größen nachzukommen, stellte Brasse auch Forderungen in Naturalien: „Für den Entwickler Brot. Fürs Fixierbad Margarine.“ Mit diesen Dunkelkammeringredienzien versorgte er seine Mitarbeiter, von denen keiner durch diese ausverhandelte Bezahlung hungern musste. Doch dies war nur jener Teil der Arbeit, die gleichsam Routine war; zu dokumentieren hatte er auch die pseudomedizinischen Experimente der SS-Ärzte Josef Mengele, Eduard Wirth, Friedrich Entress und Johannes Kremer. Besonders nahe gingen ihm die Aufträge des Letztgenannten, der alle Phasen des Verhungerns in Bildern festhalten ließ. Insgesamt, so die Schätzung von Brasse selbst, habe er an die 50.000 Fotos angefertigt.

Vor allem ein Foto von Brasse ging um die Welt, das von vier nackten und abgemagerten jüdischen Mädchen, die uns aus großen Augen anblicken. Brasse konnte dieses Bild nicht loswerden; wenn er durch den Sucher seiner Kamera blickte, sah er stets nur noch die vier Mädchen. Da half nur eines: „Weg mit der Kamera!“

Hackl war jedoch vor Jahren auf ein anderes Bild gestoßen, das ihn nicht mehr losließ; Abzüge hatte er in Wien, Madrid und Paris gefunden. Er bezeichnet es als „das einzige frohe, glückversprechende Foto aus Auschwitz“, das ihn jahrelang bei seinen Recherchen begleitet hat, und zwar um Fakten zu sammeln: über den österreichischen Häftling Rudi Friemel und die Spanierin Margarita Ferrer, die zum Zweck der Heirat für einige Stunden das KZ betreten durfte. Die Ergebnisse dieser Recherche mündeten in das Buch „Die Hochzeit von Auschwitz“ von 2002. Damals vermeinte Hackl, der Fotograf, dessen Vermächtnis ihn so lange antrieb, sei längst tot. Erst durch die polnische Ausgabe des Buches erfuhr er, dass der Fotograf noch lebte: Jacek Buras, der sich dafür eingesetzt hatte, dass Hackls Buch in Polen erscheinen konnte, sah eines Abends einen Dokumentarfilm, in dem das Hochzeitsfoto gezeigt wurde, und zwar mit jener Person, die es aufgenommen hatte: Wilhelm Brasse. Buras verständigte Hackl, vermittelte einen Besuch, und des Erzählens ward kein Ende. In der dritten Geschichte des Buches, das man auch, da bildbeladen, als Triptychon sehen kann, steht Gisela Tschofenig (1917–1945) im Mittelpunkt, „Gegnerin des Regimes“, wie der Kommentar zum Straßenschild im Linzer Stadtteil Ebelsberg lautet (zur Benennung der Straße kam es übrigens durch die Hartnäckigkeit von Margit Kain, Witwe des bereits genannten Schriftstellers Franz Kain).

Gisela Taurer wächst in Villach auf, ein Heranwachsen und Reifen in einer von sozialistischem Gedankengut geprägten Familie. Fast noch ein Kind, lernt sie den um vier Jahre älteren Josef „Pepe“ Tschofenig kennen. Freundschaft, frühe Liebe, gemeinsame Bergtouren und Skifahrten; bei Vorträgen und Diskussionsrunden erweitern sie ihr Wissen von der Welt, und „wie sie beschaffen sein sollte“. Wieder ergänzen Fotos die fehlenden Informationen über ihr Aussehen, über ihre Haltung, und darüber, dass Pepe schon 1933 kaum ein Lachen auskam.

Flucht über Prag nach Belgien

Der Februar '34 verändert ihr Leben, ihre politische Tätigkeit, relativiert wohl auch ihre Träume. Der Vater von Gisela, ein Eisenbahner, wird wegen politischer Unzuverlässigkeit von Villach nach Linz versetzt, 1935 zieht die Familie nach. Pepe wird immer wieder inhaftiert, nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht flüchtet er nach Prag, reist dann mit dem Auftrag nach Belgien, in Antwerpen eine Anlaufstelle für die KPÖ zu errichten. Gisela folgt ihm nach, auch sie ist politisch nicht untätig. Der deutsche Überfall auf Belgien trifft Pepe und seine Genossen unvorbereitet, sie werden von belgischen Polizisten verhaftet und abgeschoben. Die schwangere Gisela wird wie durch ein Wunder nicht festgenommen; sie reist unbehelligt nach Linz, wo sie Mitte Juni 1940 eintrifft.

Im Dezember gebiert sie einen Buben, Hermann, während im selben Monat ihr Mann, Pepe, von der Haftanstalt Karlau bei Graz in das KZ Dachau überstellt wird. Gisela erhält die Erlaubnis, Pepe im Standesamt des KZs Dachau zu heiraten. Gisela setzt ihre konspirative Tätigkeit fort und wird am 25. September 1944 ebenfalls verhaftet. Nach einer Einvernahme im KZ Mauthausen – hier erfolgt die beiläufige Äußerung eines Folterers „Dein Kind siehst du nimmer!“ – wird sie in das Frauengefängnis Kaplanhof in Linz überstellt. Ende März wird das Gefängnis bombardiert; mit einer Mitgefangenen kann Gisela vorerst aus den brennenden Trümmern fliehen. Doch am selben Abend werden sie und die Überlebenden nach Schörgenhub getrieben, in eine halb fertige Baracke, wo sie weiter gefangen gehalten wurden. Als Gisela mit anderen in eine Grube geschossen wird, hat in Wien die Provisorische Regierung bereits die Unabhängigkeit der Republik Österreich ausgerufen.

Doch die Geschichte ist damit nicht zu Ende. Ihr Mann und ihr beider Sohn, Hermann, überleben, Letzterer ist mittlerweile ein Freund von Hackl.

Das, was noch auf den Leser zukommt, bezeugt stets aufs Neue: was es alles an Recherche bedurfte, um so manchen Satz zu schreiben. Hackls Prosa ist eine singuläre Kunst der Vergewisserung, des Nachspürens, des Sichtbarmachens in Sprache – ein genaues Hinschauen im Nachhinein, um Vergangenes in einer Zeit narzisstischer Zynismen zu vergegenwärtigen. Ich sehe in diesem Erzählen, das immer auch ein Vergewissern von halb verwischten Spuren ist, eine gesellschaftliche Utopie des Verknüpfens, das in ein Übersetzen mündet und so schließlich für jede und jeden lesbar wird.

Hackl hat uns (zu seinem 60er) drei berührende Erzählungen geschenkt. Diese und so manch andere von ihm werden Bestand haben, weil sie zeigen, dass nicht alle Österreicher Nazis waren, und weil sie eine Kontinuität im solidarischen und selbstlosen Handeln und im Widerstand belegen, die mit der Vorstellung von einer besseren Welt korrespondiert. ■

Erich Hackl

Drei tränenlose Geschichten

Erzählungen. 154 S., Ln., €19,50
(Diogenes Verlag, Zürich)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2014)

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