Herzstich, ganz ohne Messer

Er steht im Netz – und nur dort: „Neid“, Elfriede Jelineks „Privatroman“. Und tatsächlich erfährt man darin so viel Privates über die Autorin wie nie zuvor.

So hat Elfriede Jelinek noch nie geschrieben, derart direkt von sich selbst. Spätestens mit dem fünften, letzten und längsten Kapitel des soeben fertiggestellten „Privatromans“ ist es gewiss, denn in diesem Kapitel hat die Schreibende ihre Hauptfigur, die armselige Geigenlehrerin Brigitte K., endgültig vergeigt und ist mit ihrem Schreiben dort angekommen, wo sie (wenn man ihr Glauben schenken darf, und warum sollte man das nicht tun?) in Wahrheit schon immer war, nämlich ganz bei sich und damit mitten in einem Neid, der alles zerfrisst – und zwar wirklich alles, weil er der Neid einer Toten auf das Lebende ist.

Verankert (und wenn man den Text gelesen hat, muss man sagen: gut und sicher verankert) ist diese Ungeheuerlichkeit in der Lebenssituation der Autorin. Als eine alt gewordene Frau, die aufgrund ihrer Krankheit schon lange nicht mehr unter Menschen gehen und kaum noch reisen kann, stellt Jelinek sich dar. Eine Tote, die wandelt, gemeldet nirgends mehr – so oder so ähnlich klang das noch bei Ingeborg Bachmann. In „Neid“ jedoch klingt nichts mehr: Da ist die Frau schlichtweg abgemeldet, zumal, wenn sie in die Jahre gekommen ist. Auf alles, nur eben auf die Frau „mittleren“ Alters nicht, kann man heute neidisch sein: „Ich bin ein alter Sack, ein weicher, schlaffer, alter Sack, der sich nicht zusätzlich erweichen, sondern eher schlagen lässt, weil er etwas anderes gemeint hat, als sich selbst. Es ist paradox. Was ich nicht umhin kann auszuführen, ist die Armseligkeit der alten Frauen, hier haben wir ja schon ein Exemplar, womit können wir es aufspießen?“.

Der Neid der toten Alten auf alles, was sich ringsherum und vor allem an jungen Körpern regt, weist dem Jelinekschen Privatroman die Richtung. Was aber ist überhaupt ein Privatroman? Ein Buch zunächst, das keines mehr sein will und trotzdem eines ist. Denn obwohl die Autorin den Text ins Netz gestellt hat und ihn sich ein jeder, der will, in die gute Stube laden kann, ist es doch ein Buch geblieben. 936 Seiten ergibt der Ausdruck. Ein schöner Stapel, der kaum Tippfehler hat und einen professionellen Umbruch und der vor die jeweiligen Portionen, in die die riesige Datenmenge geteilt ist, stets das gleiche Titelblatt setzt. Es zeigt ein Tafelbild von Hieronymus Bosch: „Die sieben Todsünden und die vier letzten Dinge.“ Auch darin etabliert sich der größere Werkzusammenhang, denn die Bücher „Lust“ (1989) und „Gier“ (2000) hat Jelinek ja schon vorgelegt, und mit „Neid“ (im Netz abgeschlossen exakt am 24. April 2008) ist jetzt die dritte Todsünde abgehakt.

Eine Publikation dieses Textes als Buch hat Jelinek dezidiert ausgeschlossen. Der stets aktiven Internet-Community indes sei gesagt: Ein Blog, also jene spezifische Art eines Netztagebuches, bei dem jede und jeder mitschreiben kann, ist „Neid“ aber auch nicht. Ganz im Gegenteil: Auf die demokratischen Möglichkeiten, die das Netz verspricht, pfeift die Autorin. Hier schreibt und spricht nur eine, und diese eine ist eben sie, Jelinek selbst. Dem Bloggen, und im Speziellen einem dieser jungen Blogger, einem „Blockwart“, „Blockywart“ geradezu (wobei sich Jelinek für das wunderbare Y, das man heute allem anhängen kann, ausdrücklich bei Hermes Phettberg bedankt), gilt die ganze Verachtung der Schreibenden, so wie die Verachtung in „Neid“ so gut wie alles (zwei erwähnenswerte Ausnahmen sind: Natascha Kampusch und Martin Heidegger!) und eben auch die Autorin und ihr Schreiben trifft.

Braucht kein Buch zu verkaufen

Nicht die Form des Buches also ist von der Publikationsform von „Neid“ aufgehoben, sondern lediglich sein Warenwert. Aber was heißt „lediglich“? Das Geld, das man mit ihm verdient, ist am Buch doch die Hauptsache (fragen Sie einmal einen Verlagsangehörigen). Nun, Elfriede Jelinek kann es sich leisten, gratis zu publizieren. Woran das liegt, wissen wir: Am Nobelpreis für Literatur, von dem zwar einige (wie eine gewisse Frau R. aus Hamburg, die mit ihrer bösen Kritik in „Neid“ ausgiebig aufscheint) meinten, dass die Autorin ihn gar nicht verdient, den sie aber trotzdem bekommen hat. Dieser Preis ist so hoch dotiert, dass man fortan kein Buch mehr zu verkaufen braucht – der Neid könnte einen fressen, tut es aber nicht, wenn man „Neid“ gelesen hat.

Vielleicht war die Publikationsform von „Neid“ im Netz für Jelinek auch eine der wenigen Möglichkeiten, nach dem Nobelpreis überhaupt noch weiterzuschreiben. Dem Text selbst erwachsen daraus, dass er gratis ist, jedenfalls immense Möglichkeiten, und die Autorin weist im Text auch ständig darauf hin. Der Text, so sagt sie, ist gratis, also nichts wert. Er ist geschenkt, aber wer würde sich schon für ein solches Geschenk bedanken? Umgekehrt bietet die Tatsache, dass der Text gratis ist, einen Schutz vor den Ansprüchen des Lesers: Was hat ein Leser oder eine Leserin auch für Ansprüche zu stellen, wenn er oder sie nichts zahlt?

Trotz der alltäglichen Qualen der gealterten Frau, von der „Neid“ spricht, steckt im Schreiben eine Art von Freiheit, die es bei Jelinek in der Form noch nicht gab. All die rhetorischen Abwertungen des eigenen Schreibens, die wir aus ihren Büchern kennen, erleben in „Neid“ eine glanzvolle Bestätigung, weil der Text nun eben wirklich nichts mehr wert und – perfekt eingepasst in die inflationären Privatheiten des Netzes – ganz bei der Autorin ist. Genau davon spricht „Neid“: Die Entwertungen haben kein Ende, und der „Privatroman“ ist, um sie begreifbar zu machen, die beste Form. Denn weder der Text selbst noch die Privatheiten, von denen er überquillt, haben einen Wert, da man doch all diese Privatheiten im Netz millionenfach besser haben kann. So ist die Privatheit selbst entwertet, und am gealterten Körper der Frau zeigt sich dies auch, denn den will noch nicht einmal einer geschenkt.

Die Hauptfigur von „Neid“, Brigitte K. (eine kaputte Frau in einer kaputten Gegend), könnte davon ein Lied singen, wenn die Autorin sie singen ließe. Einst, so erfahren wir, ohne dass sich aus dieser nur noch hingestotterten Geschichte je ein Gesang erhöbe, war sie in Bruck an der Mur (auch dieser Ort nicht eben ein Lichtblick) mit einem Mann verheiratet, der sie wegen einer jüngeren stehen gelassen hat. Jetzt fristet Brigitte als Geigenlehrerin ein kümmerliches Dasein in dem verlassenen Ort Eisenerz in unmittelbarer Nähe des steirischen Erzberges – eine Wunde, die die Industrie, als sie noch in der Gegend war, der Landschaft geschlagen hat und die man heute (wenig erfolgreich) mit Touristen zu füllen sucht.

Schräg gegenüber dem kleinen Haus von Brigitte wohnt ein junger Mann, wohl so an die 18 Jahre alt. In seinen Körper ist die Frau verschossen. Für den Gegenwert eines Gebrauchtwagens, den sie dem Schönling verspricht, gestattet er ihr, sich an seinen besten Stücken (aber eigentlich ist es ja nur eines) gütlich zu tun, allerdings nur mit dem Mund und ohne dass sie sich auszieht, denn den Anblick ihres nackten Körpers erträgt er nicht. Doch auch diese schräge Idylle hält nicht lang: Eines Tages steht ein junges Mädel in engen Jeans gegenüber auf der Matte. Brigitte K. räumt das Mädchen, von dem sie annimmt, dass es die Neue ihres Alten ist, weg und bringt deren knospenden Körper durch „Handarbeit“ (ein Wort, bei dem der Autorin sogleich die Handarbeitslehrerin und ehemalige Unterrichtsministerin, beinahe hätten wir sie vergessen, einfällt) unter die Erde. Dort jedoch liegt er nicht lang, da das Haus selbst (nicht etwa schon wieder eine Mure?, im Text heißt es: „aus Eigeninitiative“) sich in Bewegung setzt und ihn nach oben bringt. Die Konsequenz: Brigitte K. wandert ins Gefängnis und der Text ist (nach einer kurzen Exkursion nach Cleveland, Ohio, wo auch die Autorin noch ein kleines Schlückchen Lust findet) wenige Seiten später aus.

So typisch für Jelinek die Figur und so einfach ihre Geschichte ist, so schwer oder gar unmöglich ist es für die Autorin, sie einfach zu erzählen. Im ersten Kapitel von „Neid“ sucht sie für die Art ihres Schreibens noch nach einer Metapher und findet sie im Raum-Zeit-Begriff des Wurmloches: „Wenn Sie durch ein Wurmloch zwischen Raum und Zeit vorstoßen, dann kommen Sie zum Ausgangsort zurück, bevor Sie überhaupt abgereist sind, sehen Sie, und genauso fühle ich mich beim Schreiben.“ Im Wurmloch des Jelinekschen Erzählens findet alles gleichzeitig ohne Chronologie und Kausalität statt. So vermischt sich in „Neid“ die Geschichte der Brigitte K. mit der Beschreibung des Erzberges und der Landschaft, in die hinein die Autorin (wie gewohnt, möchte man fast sagen) Lebende und Tote, und hier speziell: die Opfer der Todesmärsche stellt, die 1945 in der Gegend stattfanden.

Das Diskurskonglomerat, das solcherart entsteht und das gleichermaßen eine Predigt gegen die Verbrechen der Vergangenheit wie eine Abrechnung mit der zivilisatorischen Gegenwart ist, kennen wir aus den Büchern der Autorin. Neu an „Neid“ ist, dass Jelinek jetzt an ihrer Figur und an all den verbalen Rundumschlägen, die am Text stets so kleben, als würden nur sie ihn zusammenhalten, bald kein Interesse mehr hat. Von Brigitte K., welche die Autorin (so verrät sie uns in „Neid“) wie all ihre Figuren nur erfunden hat, um etwas über sich selbst zu sagen, ist sie bald derart gelangweilt, dass sie sie einfach vergisst. Stattdessen geht es fortan um Jelinek selbst: Nicht nur von ihrem Neid auf alles Lebende ist die Rede, sondern auch von ihrer Biografie. So erfahren wir von einem Onkel, der mit dem sogenannten Prominententransport ins KZ kam, und auch von anderen Nazi-Opfern in der eigenen Familie. Die Rede ist aber auch vom „dementen“ Vater, dessen Alzheimer der Autorin in den nächsten Jahren droht, und nicht zuletzt (und sehr ausführlich) von der „paranoiden“ Mutter.

Ich kann nicht sagen, was passiert

Nicht um das Wurmloch des Schreibens, in dem die Autorin ihren Stil und ihre Meisterschaft findet (was Germanisten und Seminaristen freuen wird), sondern um die schlichte Unfähigkeit, die Geschichte der Brigitte K. zu erzählen, geht es im hinteren Teil von „Neid“. Und das wiederum dürfte die Kritiker freuen, die, was Jelinek in ihrem Privatroman sagt, schon immer gewusst haben: „Ich kann nicht erzählen, ich kann einfach nicht sagen, was passiert, ich kann es nicht so sagen, dass sie verstehen, dass es hintereinander passiert ist. Ich reite mich beim Aufsteigen auf meine Handlung nur immer tiefer hinein, ich kann nicht, ich kann nicht, ich lebe ja nicht in Hamburg-Eppendorf oder in Berlin-Mitte, wo man wirklich etwas zu erzählen hat.“

Dort, wo die Autorin lebt, in jenem Zwischenreich aus Leben und Tod, geht es so direkt zur Sache, dass darüber kunstvolle Erzählungen glatt verpuffen. Im Wissen, dass sie keine ist, nennt Jelinek den letzten und größten Teil von „Neid“, ebenjenes fünfte und beste Kapitel des Textes, eine „kleine Novelle“. Doch halt, so haben wir uns das nicht vorgestellt: „Mich frisst der Neid, aber ich halte trotzdem an mir fest, ich vergewissere mich jede Minute meiner selbst: War das nicht soeben ein Herzstich, ganz ohne Messer?, ich kann nicht anders, ich kann nicht anders, als mich selbst zu beobachten, denn sonst ist ja keiner da; obwohl ich an unerhört hohen Bergen – ich komme vom Gebirge her – festhalten sollte, halte ich immer nur an mir selber fest.“ So, liebe Welt, geht's in der österreichischen Hinterwelt zu: An Stelle der sieben Zwerge steht da manchmal eine Autorin rum, die gleich aussieht wie sieben Berge. ■


Elfriede Jelinek: Neid. Privatroman. 936 S. Auf: www.elfriedejelinek.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2008)

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