Renzi gibt den Anti-Austerity-Kämpfer

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epaselect ITALY GOVERNMENT PARLIAMENT RENZI(c) APA/EPA/CLAUDIO PERI (CLAUDIO PERI)
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Italiens neuer Premier kündigt für den EU-Vorsitz große Vorhaben an – etwa eine Lockerung der Sparpolitik: Doch daheim bleiben die Reformen auf der Strecke.

Noch vor einem Jahr galt Italien als das hoffnungslose, etwas belächelte Problemkind Europas. Und jetzt, zu Beginn der italienischen EU-Präsidentschaft, präsentiert sich da plötzlich ein scheinbar völlig verwandeltes Land: ein selbstbewusstes EU-Mitglied, das sogar der mächtigen Sparmeisterin Angela Merkel die Stirn bietet. Und zugleich unglaublich jung und „sexy“ wirkt.

Bewirkt hat dieses Wunder Matteo Renzi, der seit Februar regierende 39-jährige Premier. Der Linksdemokrat mit seinem jungen Team ist der neue Liebling der europäischen Medien: Die einen sprechen vom „neuen Schröder“, andere vom „jungen Blair“. Als sich dann der Ex-Bürgermeister aus Florenz beim Interview mit den Großen der EU-Medien locker in Jeans präsentierte, war das Image des verkrusteten, bürokratischen Italien wie weggezaubert.

Anti-Austerity-Front mit Paris

Renzi sieht sich selbst als der neue Vertreter eines „Dritten Weges“ – einer pragmatischen, marktorientierten Sozialdemokratie mit keynesianischen Zügen. Gemeinsam mit dem französischen Präsidenten, François Hollande, will er denn auch in Europa eine neue Anti-Austerity-Front anführen. Die Zahlen dazu hat er: Seine Linksdemokraten sind stärkste Gruppierung innerhalb der SPE – bei der EU-Wahl bekam Renzis Partei mehr als 40 Prozent. Eine lockerere („flexiblere“) Sparpolitik wird, so der Wunsch des Premiers, die Agenda des EU-Semesters dominieren: Der Premier sagt zwar, dass er die Drei-Prozent-Defizitgrenze einhalten wolle. Doch er verlangt mehr Spielraum für Schulden – so sollten etwa Kosten für öffentliche Investitionen, die das Wachstum fördern, nicht berücksichtigt werden.

Diese Diskussion, die Renzi beim EU-Gipfel vergangene Woche immer wieder anzettelte, gehe der deutschen Kanzlerin „allmählich auf die Nerven“, schreibt die „FAZ“: Nicht nur, weil ein gewisses Maß an Flexibilität im Stabilitätspakt bereits vorgesehen sei – und von Rom schon in Anspruch genommen werde –, sondern vor allem, weil Merkel von weiteren Zugeständnissen nichts hält. Renzi gefällt sich aber in der Rolle des Anti-Austerity-Davids, der Goliath-Merkel herausfordert. Denn er kommt gut damit an – vor allem daheim, wo jeder Vierte bei der Europawahl für eine Anti-Euro-Partei stimmte. Und durch sein forsches Auftreten hat er der drittgrößten Euro-Volkswirtschaft nach jahrzehntelanger Wirtschaftsmisere erstmals wieder etwas Selbstbewusstsein eingehaucht – und die Hoffnung, dass eine Verbesserung möglich ist.

Schulden auf Rekordhoch

Viel mehr hat der umtriebige Renzi bisher allerdings nicht vorzuweisen: Die Staatsverschuldung hat mit 137 Prozent ein neues Rekordhoch erreicht – ebenso wie die Jugendarbeitslosigkeit (43 Prozent). Und außer einer Senkung der Lohnnebenkosten um 80 Euro sowie Kürzungen bei Gehältern von Spitzenfunktionären ist von den groß angekündigten Reformen wenig zu sehen – was auch am Arbeitstempo des Parlaments und an internem Dissens seiner Partei liegt. Renzi jedenfalls hat das Versprechen, Italien in „100 Tagen zu verändern“ auf bescheidenere „1000 Tage“ revidiert.

Ohnehin gibt sich der Premier lieber mit großen Visionen als mit kleinkrämerischer Reformarbeit ab. So auch in Europa: Neben dem Topthema Migration – Italien fordert mehr EU-Solidarität bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme über das Mittelmeer – träumt Renzi von „den Vereinigten Staaten Europas“. Alle EU-Staaten sollen während Italiens EU-Halbjahr eine Umfrage zu weiteren Integrationsschritten beantworten. In Rom munkelt man sogar von einem Plan, der die politische Integration der Eurozone vorsieht. Angetrieben würde dieses Megaprojekt von einer neuen Allianz – zwischen Rom und Berlin.

AUF EINEN BLICK

Italien führt ab Juli den EU-Ratsvorsitz. Auf der Agenda stehen unter anderem die EU-Sparpolitik, die EU-Migrationspolitik (Ziel ist u. a. eine Stärkung des EU-Grenzschutzes im Mittelmeerraum) und die EU-Integration. Das EU-Semester wird auch in Wien „gefeiert“ – durch einen Auftritt der berühmten Fahnenschwinger von Arezzo auf dem Rathausplatz (am 3.7. um 19.30 Uhr).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2014)

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