Der Teufel und die Innigkeit

Jahr für Jahr wird Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ am Salzburger Domplatz aufgeführt. Die Idee, sein Stück unter freiem Himmel zu platzieren, hatte der Dichter freilich anderswo: in der Wachau.

Geboren 1968. Studium der Anglistik und Geschichte an der Universität Wien. MMag. phil. Journalistin, Autorin, Kommunikationstrainerin und Pädagogin. Leitet die Europäischen Literatur-Jugendbegegnungen (www.eljub.eu).

Sein Leben lang war Hugo von Hofmannsthal von der Angst verfolgt zu verarmen. Und genau so jemand schreibt den „Jedermann“, das „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“, in dem es im Wesentlichen darum geht, dass Gut und Geld eben nicht alles sind. Am Ende sind es allein die „guten Werke“ und sein „Glaube“, die Jedermann auf dem Weg in den Tod begleiten: nicht sein Geld, nicht sein Besitz, nicht die Zechfreunde und schon gar nicht die Buhlschaft, die sich rasch absentiert, als die Stimmung von Champagner Richtung Magenbitter kippt.

Da hat also einer Panik, sein tägliches Leben nicht finanzieren zu können. Und dann schreibt ausgerechnet er eine „Moralität“, ein belehrendes Schauspiel, und teilt seinem Publikum mit, dass es nicht so geldgierig und genusssüchtig sein soll, weil das erstens leer und überdrüssig macht und zweitens seichte, rein am wechselseitigen Eigennutz orientierte Freundschaften beschert. Heute würde man sagen: Seilschaften. Freunde, die lautlos entgleiten, wenn es komplizierter wird.

Hofmannsthals Angst vor der Verarmung war keineswegs der Spleen einer überreizten Literatenseele. Sie basierte auf einem tiefen Schrecken, der den Hofmannsthals in die Glieder fuhr, kurz bevor der Schriftsteller selbst zur Welt kam, und das ging so: Hugo von Hofmannsthals Urgroßvater war ein sehr erfolgreicher Industrieller gewesen. Einer von nicht wenigen neu geadelten Großbürgern im 19. Jahrhundert. 1873 ging dann das gesamte Familienvermögen im großen Gründerzeitkrach verloren. 1874 kam Hugo von Hofmannsthal zur Welt. So etwas prägt. Die Eltern erkannten Bildung als Lebenschance ihres einzigen Kindes, hier investierten sie: Hugo wurde blendende Erziehung zuteil, unter anderem durch Privatunterricht.

Was das alles mit der Wachau zu tun haben könnte, versteht vielleicht, wer einen Ausflug nach Dürnstein mit einem Ausflug ins Stift verbindet und sich nicht nur für den blauen Turm und den, zugegebenerweise grandiosen, Blick auf die Donau interessiert, sondern auch den kurzen Weg zum Stiftshof nimmt und dort ein paar Minuten nur schaut. Es ist heute gar nicht so einfach, eine Zeit lang quasi offline an einem Ort zu stehen. Es zahlt sich aber aus. Wer diese Atmosphäre auf sich wirken lässt, spürt nach ein paar Minuten fast unausweichlich, wie ihm ein sanftes Déjà-vu den Rücken hinaufklettert.

Denn der Dürnsteiner Stiftshof sieht tatsächlich aus wie die kontemplative, womöglich elegantere Miniausgabe eines anderen Ortes, den man im Allgemeinen nicht mit derart ruhiger, ästhetischer Geschlossenheit verbindet. Für solche Innigkeit ist der Salzburger Domplatz nämlich zu groß, zu nobel und irgendwie zu routiniert als Kulisse prunkvoller Spiele. Der Stiftshof Dürnstein würde den „Jedermann“ zur tief ergreifenden Tragödie eines unendlich einsamen, eines zu spät geläuterten Egomanen machen; praktisch zum Gruselschocker, wenn dann auch noch der Teufel gellend nach ihm schreit in diesem kleinen Innenhof.

Tradition und prickelndes Publikum

Tradition als Spielort hat der Domplatz schon über Jahrhunderte, also längst nicht nur wegen der Salzburger Festspiele, deren Mitbegründer Hugo von Hofmannsthal war; nicht wegen Hofmannsthals „Jedermann“, der am 22. August 1920 unter der Regie von Max Reinhardt erstmals auf dem Domplatz aufgeführt wurde und das Kernstück der Festspiele war und bis heute ist. Am fürsterzbischöflichen Hof zu Salzburg wurde schon früh prunkvoll repräsentiert, mit Dramen und Singspielen, mittelalterlichen Mysterien- und Passionsspielen, kirchlichen Umzüge, Prozessionen und barocken Festen: auf dem Domplatz, selbstverständlich.

Und nicht vergessen: Kaiser Franz Joseph verbrachte seine Sommer lebenslang mit Vorliebe praktisch ums Eck, in Ischl. Das zog ein prickelndes Publikum in die Region, diese Durchmischung aus Wiener bürgerlichen Sommerfrischlern, Intellektuellen, vermögendem Großbürgertum und einem Stich ins Altadelig-Imperiale, wie er eben typisch fürs Salzburgische ist. Diese Festspiel-Publikumsatmosphäre findet man so nur in Salzburg.

Alles das ist hier nicht, im Stiftshof zu Dürnstein an einem lauen Sommertag. Da ist es hier wahrscheinlich milder als draußen an der Donau, wohltuend kühler, ein Ort, der zum Verweilen, zur Kontemplation einlädt. Ja, und hier ist es dann geschehen: Hugo von Hofmannsthal arbeitete von 1903 bis 1911 an seinem „Jedermann“. Am 1. Dezember 1911 wurde das Stück uraufgeführt, nicht in Österreich, sondern in Berlin, im Zirkus Schumann, ein reichlich mäßiger Erfolg. Die Idee, sein Stück, das „die Hinfälligkeit der irdischen Besitztümer und der Heilsnotwendigkeit der Buße mit der Parabel vom Freund in der Not verbindet“, wie Kindlers Literaturlexikon Hofmannsthals Leistung, verschiedene uralte Stoffquellen zusammenzuführen, beschreibt, die Idee sein Stück im Freien aufzuführen, hatte Hugo von Hofmannsthal genau hier.

In diesem Innenhof.

Wer dort steht, begreift, was hier geschah. Dieser geschlossene, in seiner Kleinheit Ruhe, ja Geborgenheit ausstrahlende Ort hat eine derart starke Aura. Was für ein Kick mag es für den Künstler gewesen sein, sich seinen „Jedermann“ hier vorzustellen. Wie würde dieses Stück hier berühren, vor wenigen Menschen aufgeführt. Womöglich würde wirklich da und dort Ergriffenheit herrschen. Was mit Sicherheit nicht in den Stiftshof Dürnstein passt, ist ein pompöses Kasperltheater für Erwachsene.

Wollen wir damit sagen, dass Hugo von Hofmannsthal seinen „Jedermann“ ja eigentlich in Dürnstein aufführen wollte und sich nur durch die Umstände, unter anderem seinen Verarmungswahn, genötigt sah, mit dem Stück ins noble Salzburg zu gehen, wo man schon über Jahrhunderte Erfahrung mit prunkvollen Spielen auf dem Domplatz hatte? Dass Hofmannsthal andernfalls 1920 nicht zum Mitbegründer der Salzburger Festspiele geworden wäre, sondern womöglich zum Gründer der Dürnsteiner „Jedermann“-Spiele? Dass man heute in Dürnstein statt Marillensouvenirs Juwelen und Nobeldesign kaufen könnte? Dass Dürnstein hundertmal mehr Parkplätze hätte sowie einen Helikopterlandeplatz?

Hätte also, fragen wir uns, ein Hofmannsthal ohne Verarmungswahn sich dafür eingesetzt, dass sein „Jedermann“ nicht etwa im schicken Salzburg, sondern dort aufgeführt wird, wo ihm die Idee zu dem Stück gekommen war, nämlich im viel intimeren, charismatischen Innenhof des Stiftes Dürnstein?

Aber nein.

In seiner Poesie war er ein Träumer, zweifellos. Hofmannsthal, der Jungstar, der schon als 16-jähriger Grünschnabel viel beachtete Gedichte in der „Presse“ publizierte (unter Pseudonym, wegen der Schule). „Idol einer Generation“ nennt Kindlers Lexikon den jungen, hochgelobten Dichter, der schon mit 16 im Café Griensteidl ein und aus ging, der mit Arthur Schnitzler, Hermann Bahr und Felix Salten bekannt war.

Doch er hatte auch einen ausgesprochenen Sinn fürs Praktische, Sinnvolle. In der Wiener Literatenszene des Fin de Siècle war Hofmannsthal keiner von den finanziell abgehobenen Privatiers, und er war auch kein Schnorrer. Hofmannsthal hat für seinen Lebensunterhalt zeitlebens gearbeitet. Das gelang ihm mit seiner Literatur und mit Arbeiten im literarischen Feld, wobei er nicht etwa allein in einem Dachkämmerchen hauste, sondern durchaus bürgerlich mit seiner Frau und den drei Kindern lebte.

„Von allem das Höchste“

„Von allem das Höchste“, lautete das Motto bei der Gründung der Salzburger Festspiele: Die besten Künstlerinnen und Künstler sollten hier versammelt sein und ihr Bestes geben vor dem bestdenkbaren Publikum. Das ist gelungen. Die Rolle des Jedermann in Salzburg bleibt seit Jahrzehnten eine der höchsten Auszeichnungen für Schauspieler im deutschsprachigen Raum, Ähnliches gilt für die Buhlschaft.

Der Teufel amüsiert das Publikum, und es könnte nicht besser passen, wenn Hofmannsthal das Geld selbst, den personifizierten „Mammon“, über die wahren Verhältnisse zwischen Besitz und Besessenen sprechen lässt: Sein behaglich großer, sein riesiger Besitz und das ganze Geld, der Mammon halt, erheben Jedermann nicht zwangsläufig, wie nicht nur er das gerne hätte, in den Rang einer „kleinen Gottheit“. Nein, der gierige Gott ist Mammon selbst. Er ist es, der in Wahrheit Jedermanns Seele an sich rafft, von ihr Besitz ergreift und sie kaputt gemacht hat.

Wie es halt so ist, wenn es so ist. Und akkurat das hören sich am Domplatz zu Salzburg seit Jahrzehnten Menschen an, die hierher zum Beispiel ihre Geschäftsfreunde aus dem Ausland einladen, samt Gattinnen, um anschließend mit ihnen noch fein zu speisen. So erheben die Salzburger Festspiele Hofmannsthals „Jedermann“ samt Publikum alljährlich zum Gesamtkunstwerk, der eine Teil undenkbar ohne den anderen oder jedenfalls nicht halb so reizvoll.

Der Dürnsteiner Innenhof mag die innigere Atmosphäre haben als der Salzburger Domplatz. Er mag mit seinen Möglichkeiten und der quasi dichterischen Dichte baulich reizvoller für einen Künstler sein. Schön, hier zu verweilen und über all das und anderes zu sinnieren. Ein guter Ort. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.