Als der Strick riss

Am 28.April 1945 besetzt eine SS-Einheit den Schützenhöfer-Hof. Die Anwesenden werden mit dem Erschießen bedroht, sollten sie nicht das Versteck des Bauern preisgeben, dem die Unterstützung der Freiheitskämpfer angelastet wird. Widerstand in Hartberg: eine Rekonstruktion.

Im September 1944 kehrt ein gewisser Gustav Pfeiler nicht mehr an die Front zurück. Der Deserteur, der vor 1938 der Heimwehr angehört hat, beginnt eine Gruppe von Männern und Frauen um sich zu scharen – kurz vor der bedingungslosen Kapitulation des Großdeutschen Reichs werden es an die 300 sein. Sie tragen rot-weiß-rote Armbinden und verstecken sich in den Bergen um Hartberg; durch Sabotage, Gefangennahme prominenter Nazis und Waffenbeschlagnahmungen wollen sie den Übergang in eine postfaschistische Zeit vorantreiben. Dabei sind sie auf die Unterstützung der Bauern angewiesen, die ihnen mehr oder weniger freiwillig Unterschlupf und Verköstigung gewähren.

Am 6.April 1945, nachdem in unmittelbarer Umgebung der Stadt der Zellenleiter von Staudach, der Ortsbauernführer von Pongrazen und der Ortsbauernführer von Staudach festgenommen wurden, lässt der Ortsgruppenleiter der NSDAP Hartberg, Erich Heumann, seine Familie am Hof der Familie Schützenhöfer am Masenberg einquartieren. Johann Schützenhöfer, der zur Ernte zu Hause bleiben durfte und nicht zurück zum Volkssturm musste, kann sich nicht wehren. Am Hof leben elf Menschen – jetzt ziehen noch einmal zehn in ein kleines Zimmer. Im Stall werden Waffen der Nazis versteckt, die trotz der unausweichlichen Niederlage Durchhalteparolen ausgeben und einen Stützpunkt am Masenberg errichten wollen. In der Nacht auf den 7.April gebiert die Bäuerin einen Sohn.

Am Nachmittag des 7.April lässt sich Erich Heumann zum Hof fahren; er wähnt seine Familie auch außerhalb der Stadt nicht mehr sicher. Als er aussteigt, eröffnen die Freiheitskämpfer das Feuer. Die Nazis erwidern es, bei dem Schusswechsel werden sowohl Erich Heumann, der flieht, als auch Gustav Pfeiler verletzt. Aus dem Hof sollen Schüsse auf die Freiheitskämpfer abgegeben worden sein; auch von Handgranaten wird die Rede sein. Daraufhin dringen Freiheitskämpfer in den Hof ein; nach einem Handgemenge erschießen sie Heumanns Familie – die Frau und zwei Kinder des Ortsgruppenleiters, die Schwiegereltern, deren Tochter, ein Dienstmädchen, einen Mitarbeiter und dessen Frau. Franz Spieß, Pfeilers rechte Hand, wird dazu am 23.Oktober 1945 sagen: „Paar“ – der Schwiegervater Heumanns – „ging sogleich mit einem Tafelmesser auf mich los, während Pausackerl“ – ein Mitarbeiter Heumanns – „einen Stuhl gegen mich aufzog. Wegen dieser drohenden Haltungen habe ich meinen Revolver gezogen und beide niedergeschossen. Auf diese Schüsse hin kamen auch meine anderen Kameraden ins Zimmer, und es wurden von ihnen mit Ausnahme eines kleinen Kindes alle anderen Anwesenden erschossen.“

Am 8.April werden die Toten abtransportiert. Der Sicherheitsdienst der SS und eine Kompanie der Waffen-SS werden nach Hartberg beordert, um gegen die Freiheitskämpfer vorzugehen. Unter dem Vorwand, sich dem Kampf gegen die Nazis anschließen zu wollen, schleichen sich SS-Männer bei den Freiheitskämpfern ein. Am 27.April steckt die SS Pfeilers Hof in Brand; von dort geht es zum Hof Johann Hofstadlers. Über die Ereignisse wird unter anderen der Hilfsgendarm Gerngross am 27.November 1945 zu Protokoll geben: „Als ich gerade zum Hofstadler gebracht wurde, wurde der Knecht des Besitzers namens Josef Bambuschek von einem mir dem Namen nach nicht bekannten SS-Hauptsturmführer im Beisein mehrerer mir gleichfalls nicht bekannter SS-Leute verhört und hierbei geschlagen. Nach dem Verhör wurde er beim vorgenannten Anwesen von der SS erschossen. Hernach wurde Michael Schützenhöfer“ – der mit der Familie des besagten Hofes nur den Namen gemein hat – „von einem mir unbekannten SS-Oberscharführer aus dem Hause geführt und auf einem Birnbaum aufgehängt, während sein Bruder Alois Schützenhöfer im Hofe von der SS erschossen wurde. Dann kam der SS-Sturmbannführer in Begleitung eines mir dem Namen nach nicht bekannten SS-Mannes, der sich bereits vier Tage vor dieser Aktion unter die Freiheitskämpfer einschlich. Dieser zeigte dem Sturmbannführer die einzelnen Personen, die er unter den Freiheitskämpfern gesehen hat. Unter anderem zeigte er auf Hermann Rudolf. Rudolf zeigte seinen Wehrmachtsurlaubsschein vor. Der Sturmbannführer erwiderte, es gibt nur einen Tapferkeitsurlaub. Auf die Worte des Sturmbannführers ,Weg mit ihm‘ wurde Rudolf abgeführt und im Hof von der SS erschossen. Als Letzter wurde Karl Hofer vernommen. Als Hofer befragt wurde, warum er nicht bei der Wehrmacht sei, erwiderte dieser, dass er infolge eines Bruchleidens entlassen worden ist. Als Hofer die Papiere vorweisen wollte, wurden ihm diese vom Sturmbannführer aus den Händen gerissen und, ohne anzusehen, weggeworfen. Auf die Aufforderung ,Weg mit ihm‘ wurde Hofer in den Hof geführt und dortselbst gleichfalls erschossen.“

Während mehrere Höfe angezündet werden, macht sich die SS daran, Bauern und Bäuerinnen festzunehmen, die sie der Unterstützung des Freiheitskampfes verdächtigen, und im Alten Gericht sowie im Schulhaus einzusperren. Viele Gefangene werden geschlagen und gefoltert; Heumann selbst ist immer wieder zugegen.

Am 28.April besetzen Heumann und eine SS-Einheit den Schützenhöfer-Hof. Mit vorgehaltenen Gewehren bedrohen sie die Anwesenden mit der Erschießung, sollten diese nicht das Versteck des Bauern preisgeben, dem jetzt die Unterstützung der Freiheitskämpfer angelastet wird. Johann Schützenhöfer wird im Stall gefunden und schwer misshandelt in die Küche gezerrt. Vor seinem Abtransport nimmt er noch einmal seinen knapp zwei Wochen alten Sohn in die Arme und vertraut ihm den Hof an.

Im Alten Gericht tritt ein Standgericht der Gestapo und des Sicherheitsdienstes der SS zusammen: 13 Gefangene werden im Eilverfahren zum Tode verurteilt. Am 4. Mai werden neun davon aus dem Alten Gericht in den von Schaulustigen gefüllten Kernstock-Park, den heutigen Stadtpark, geführt; mit drei Salven werden jeweils drei Männer erschossen.

Einem, Josef Straschek, gelingt die Flucht – er wird aber noch vor der Mariensäule am Adolf-Hitler-Platz, dem heutigen Hauptplatz, erschossen. Dort werden nach den Erschießungen im Park vier Männer auf vier Laternen gehängt. Einer davon ist Johann Schützenhöfer, ein zweiter sein Bruder Michael, dessen Strick reißt – jemand eilt herbei, um ihn zu erschießen, die Pistole streikt, die eines zweiten funktioniert. Am 7. Mai 1945, einen Tag, bevor die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches in Kraft tritt, räumen Nazis und SS ihre Kerker. 26 Gefangene – elf desertierte Soldaten, acht Zwangsarbeiter, neun Freiheitskämpferinnen, Freiheitskämpfer und vermutete Unterstützer – sollen unter SS-Aufsicht nach Pöllau gebracht werden. Aloisia Straschek, die Frau des Josef Straschek, dem auch die Flucht vorm Erschießungskommando nichts genutzt hatte, wird dabei ebenso bestialisch ermordet wie Christine, Johann und Walter Spieß. Als Letzter wird ein gewisser Franz Simonschek ermordet.

Am 18.August 1946 wird im Hartberger Stadtpark vor 1500 Menschen eine Gedenktafel zur Erinnerung an die ermordeten Freiheitskämpfer und ihre Unterstützer enthüllt. Gustav Pfeiler, der entgegen seinen Ambitionen weder Bürgermeister noch Bezirkshauptmann wurde, hält eine Rede, in der er auch auf jene Nazis hinweist, die noch immer in Ämtern und auf guten Posten sitzen.

Erich Heumann, Mitglied der NSDAP seit 1932, Ortsgruppenleiter und Geschäftsführer der Kreisleitung Hartberg, wird im Februar 1947 zu 15 Jahren Haft verurteilt. Das gleiche Strafmaß fasst Florian Groß, Mitglied der NSDAP seit 1930, Bezirksleiter, Kreisleiter von Hartberg und SS-Obersturmbannführer, im September aus. Der Gestapo-Leiter Johann Tobi hatte noch im Mai 1945 in Salzburg Selbstmord begangen.

Im Oktober 1950 stellt die Frau des Florian Groß ein Gnadengesuch an Bundespräsident Renner, dem Unterstützungserklärungen maßgeblicher Hartberger Persönlichkeiten, Ämter und der neuen demokratischen Parteien angehängt werden – auch ein Funktionär der KP legt ein Leumundszeugnis bei. Zu Weihnachten 1951 wird Groß amnestiert. Im Juli 1952 stellt Erich Heumann ein Gnadengesuch an Bundespräsident Körner. Heumann wird im März 1953 amnestiert.


Das ist die Geschichte,
soweit sie zu rekonstruieren ist. Ihre Rekonstruktion beruht in erster Linie auf Prozessakten und Zeugenaussagen, die kurz nach Kriegsende begannen und Mitte 1946 abgeschlossen waren. Alles andere ist Geschichtsschreibung, die in diesem Fall bisher von denen betrieben wurde, die die sowjetische Besatzungszeit als die eigentlich schlimmste betrachten. Obwohl sich die Täter abgesprochen hatten – und wenn sie sich nicht abgesprochen hatten, wussten sie genau, was sie auszusagen hatten – sind die Toten, ihre Todesdaten und Todesorte die einzigen Tatsachen. Aber politisch geben die meisten Aussagen nicht viel her, mit Ausnahme jener der wenigen Freiheitskämpfer, die überlebt haben und einvernommen wurden oder kleine Berichte aufzeichneten. Die meisten der Befragten aber sind familiär in den Konflikt verwickelt. Welche Rücksichten werden im Verschweigen genommen? Welche Vorsichten?

So ist auch die in Fortsetzungen im katholischen Pfarrblatt erschienene Ereignischronik des ehemaligen Hauptschuldirektors Johann Hofer eine etwas ratlose Aneinanderreihung von Aussagen, deren Wahrheitsgehalt und Vollständigkeit gerade in einer so delikaten Frage angezweifelt werden dürfen. Das größte Problem dieser tendenziösen, aber in einer durch die Ereignisse gespaltenen Stadt wichtigen Arbeit besteht in der Reduktion der Geschichte auf eine Privatfehde.

Interessant ist, dass ein Schriftsteller, der nichts mit dem Ort zu tun hat, mit der Bearbeitung der Geschichte beauftragt wird, die noch dazu die einzige ist, die im rundum renovierten Hartberger Stadtmuseum sich mit der Nazizeit beschäftigt – weggesperrt in eine Koje, sollte sich wirklich jemand damit auseinandersetzen wollen. Von Anfang an wurde mir bedeutet, dass es eine schwierige Geschichte sei, die sich nicht so leicht auflösen lasse, weil. Dieses Weil betraf stets die Freiheitskämpfer, die immer wieder diskreditiert werden sollen und, so die hegemoniale Meinung, mit der Ermordung der Familie des Kreisleiters recht eigentlich erst die Rache der Nazis auf den Plan gerufen hätten. Wollte man dergestalt argumentieren, könnte man die Angelegenheit umdrehen und auf die Errichtung eines Waffenlagers und eines Stützpunktes hinweisen, die dem Kampf gegen die Partisanen, in letzter Konsequenz ihrer Auslöschung dienen sollten; außerdem wurde kurz nach der nazistischen Machtübernahme Anzeige gegen Pfeiler erstattet.

Das Ereignis vom Schützenhöfer-Hof ist nicht aufzulösen, und darin liegt das Problem: dass man Helden will, lauter und rein. Die Hartberger Freiheitskämpfer waren Bauern, Deserteure, auch Wendehälse, aber der Kampf gegen die lokale Nazimacht allein ist, wenn man das Wort schon benützen will, heldenhaft genug. Jede und jeder wusste, was blüht, sollte man gefangen werden. Vielleicht war in diesem Fall das Recht gerechter als die moralischen Überlegungen der Heutigen: Jene Taten gegen die Nazis, die nach ihrem Recht als Hochverrat geahndet worden wären, wurden amnestiert.

Und trotzdem dürfte das Aufeinandertreffen mit einem alten Mann am Hartberger Friedhof immer noch das vorherrschende Bild sein: Libertad Hackl, die den Film zur Geschichte der Freiheitskämpfer drehte, hatte ihre Kamera vor dem Eingang aufgestellt und das Objektiv auf die Grabsteine der Erschossenen und Erhängten gerichtet. Der alte Mann, der genau wusste, was sie filmte, fragte, was wir da täten. „Den Opfern der letzten Kriegstage“, las er dann von einem Stein ab und sagte mit einem Wink über die Schulter, eigentlich müssten wir dort filmen, am Soldatenfriedhof. Dass die Toten hier nur die Rache der Toten dort seien, in der Mitte des Friedhofs, wo Heumanns Familie bestattet ist. „Die sogenannten Freiheitskämpfer“, sagte er dann, als er keine Antwort erhielt, und malte Gänsefüßchen in die Luft, seien keine Guten gewesen. Damit verschwand er.

Unterdessen sitzt Wolfgang Brossmann in seinem Arbeitszimmer in Lafnitz, und wann immer man eine Frage auch nur antippt, verschwindet er in seine Bibliothek und kommt mit Akten über Akten zurück, mit Fotos und Kopien, die die Nazizeit in Hartberg so detailliert wie nur möglich dokumentieren – ein Archiv des Schreckens, aber auch der alltäglichen Niedertracht. Das überbordende Archiv, sein schieres Ausmaß zeigt aber auch, wie allein er mit seinen Fragen ist. Dass man ein geplantes Denkmal Brossmanns und des bildenden Künstlers Josef Schützenhöfer für abgeschossene US-Piloten und GIs gegenüber eines Kriegerdenkmals verhindert, weil man keine Ausstellung über den Feind machen will, erzählt er, dass die Nazis die Uniformen bloß gegen Loden eintauschten, dass ein SP-Funktionär noch immer Hitlers Geburtstag feiert, dass seine 18-jährige Tochter von einer samstäglichen Party erzählt bekam, bei der Jugendliche unter Hakenkreuzfahnen saßen.

Er hat die Jahrgänge der „Wechselschau“ 1938–1940 Jahr für Jahr durchforstet und daraus Chroniken zusammengestellt, die demnächst veröffentlicht werden. Weitere Ordner, in denen handschriftlich die wichtigsten Nazis des Bezirks mit Charge, Reden und Taten verzeichnet sind, dürften einigen noch einmal sehr unangenehm werden. Brossmann begann die Arbeit überhaupt erst, als er herausfand, dass sein Vater und andere Familienmitglieder viel brauner waren, als sie es je zugegeben hatten.

In der Angelegenheit der Freiheitskämpfer gab ein Zeuge zu Protokoll, im April 1945 habe ihm ein mittlerer Hartberger Nazibeamter eine Schublade voller rot-weiß-roter Armbinden gezeigt. Dazu habe er gesagt: „Für später.“ Und dieses Später, das sich so heuchlerisch auf Österreichs Verantwortung seiner Befreiung gegenüber bezieht, wie es die Moskauer Deklaration forderte, dauerte zehn Jahre, wenn überhaupt. Die um die Freiheit und für andere Verhältnisse kämpften, wurden, wenn überhaupt, zu spät geehrt. Die meisten aber überlebten nicht. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2008)

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