Versuche über das Zwischen

Wie denken, erinnern, fühlen wir? Siri Hustvedt sucht in ihrem brillanten Essayband „Leben, Denken, Schauen“ nach interdisziplinären Antworten und findet das „Zwischen“-Reich.

Viele Schriftstellerinnen gibt es nicht, die sowohl als Romanautorinnen glänzen als auch für ihre Essays gefeiert werden. Siri Hustvedt zählt zu diesen wenigen, sie ist eine, die tatsächlich beides kann und beidem auch die gleiche Aufmerksamkeit schenkt. Auf Englisch ist soeben ihr sechster Roman erschienen, „The Blazing World“, der von einer Künstlerin handelt, die erst dann Erfolge feiert, als sie ihre weibliche hinter drei männlichen Identitäten versteckt; auf Deutsch liegt nun ihr vierter Essayband vor.

„Leben, Denken, Schauen“ („Living, Thinking, Looking“) versammelt 32 mal kürzere, mal längere Essays aus den Jahren 2005 bis 2011, die entsprechend dem Titel jene drei großen Themenbereiche behandeln, denen seit Jahren Hustvedts besonderes Interesse gilt: In „Leben“ reflektiert sie persönliche Aspekte ihres eigenes Lebens, etwa ihre über Jahre hinweg nicht erkannte Migräne oder ihre eigene Herkunft aus Skandinavien; ebenso finden sich hier kurze Betrachtungen zu konkreten und abstrakten Begriffen wie „Blumen“ oder „Zweideutigkeit“. „Denken“ beschäftigt sich mit den kognitiven Prozessen, die den Menschen ausmachen, mit so komplexen Phänomenen wie dem Erinnern, dem Erzählen oder der menschlichen Fantasie, hier beeindruckt Hustvedt mit ihrem breiten interdisziplinären Wissen, vor allem zu den Neurowissenschaften und zur Psychoanalyse. „Schauen“ schließlich ist eineZusammenstellung von Betrachtungen zur kognitiven Wahrnehmung von Bildern und zu einzelnen Künstlern wie Gerhard Richter, Goya oder Louise Bourgeois.

Der Bogen, den Hustvedt in ihrer Essaysammlung spannt, ist also recht groß. Als verbindendes Element fungiert, wie es im Vorwort heißt, die „beständige Neugier, was es bedeutet, ein Mensch zu sein“. Das klingt verdächtig allgemein, funktioniert aber trotz des gedanklichen Spagats von Migräne bis Goya und von Blumen bis zu Spiegelneuronen und ihrer Bedeutung für die Fähigkeit zur Empathie erstaunlich gut. Denn es gibt ein grundlegendes Merkmal, das all die gedanklichen Marathonstrecken, die Hustvedt in ihren Essays zurücklegt, vereint: Es ist das Präfix „inter-“. Hustvedts Essays sind allesamt Versuche über das „Zwischen“, sie betrachten das Menschsein als ständige, unaufhörliche Interaktion – mit sich, mit anderen, mit der Umwelt; und sie tun dies immer interdisziplinär – aus möglichst vielen unterschiedlichen Facetten.

Wenn Hustvedt zum Beispiel versucht herauszufinden, was Erinnern und Imaginieren miteinander verbindet und was sie voneinander unterscheidet, dann beginnt sie bei Augustinus, kommt über den italienischen Philosophen Giambattista Vico zu Maurice Merleau-Ponty, schlägt einen Haken zum Neurowissenschaftler Demis Hassabis, geht weiter zu Marcel Proust, Edmund Husserl und kommt am Ende zurück zu sich selbst, zu ihren Erfahrungen als Schriftstellerin.

Denn aufgrund ihres interaktiven Ansatzes thematisiert Hustvedt immer auch ihre eigene Perspektive, sei es als Schriftstellerin, sei es als Schreibkursleiterin in einer psychiatrischen Anstalt. Alle Essays sind daher auch in der Ich-Form gehalten, wodurch selbst spröde Sujets erstaunlich lebendig werden und das theoriegeleitete abstrakte Denken eine wohltuend persönliche Note erhält.

Da es einige Denker gibt, auf die Hustvedt immer wieder zurückkommt, weiß man bald, woraus ihr multiwissenschaftliches Gedankenfundament sich zusammensetzt, und kann sich trotz des interdisziplinären Zugriffs orientieren. Sigmund Freud ist etwa einer derer, auf die Hustvedt gern zurückkommt, in besonderem Maß hat sie sich mit ihm für die Sigmund-Freud-Vorlesung, die sie 2011 in Wien gehalten hat, auseinandergesetzt, die unter dem Titel „Freuds Tummelplatz“ nachzulesen ist; D.W. Winnicott und Merlau-Ponty sind zwei weitere starke Einflüsse für Hustvedts Denken, genauso wie Martin Buber, der Psychologe Jaak Panksepp oder auch Proust.

Diese zwei Merkmale, der interdisziplinäre Ansatz und der interaktive Zugang, sind ihre größte Qualitäten als Denkerin. So wird sie zu einer wichtigen Botschafterin zwischen den Fachdisziplinen, die aufzeigt, wie fruchtbar der Dialog zwischen Geistes- und Naturwissenschaften sein kann. Die interaktive Perspektive unterscheidet Hustvedt von anderen, vor allem manchen männlichen Kollegen. Es ist ein anderer, vielleicht ein weiblicher Blick, der alles in Beziehung sieht und setzt, sich selbst davon nicht ausnimmt, der als Teil davon spricht, und zwar nicht von oben herab. Liest man Hustvedt-Essays, so liest man nie große, kühne Thesen, deren Wichtigkeit jede Textzeile plakativ vor sich her trägt, sondern ruhig vor sich hin mäandrierende Gedankengänge, die ohne Selbstverliebtheit und Effekthascherei sehr kluge, oft originelle Erkenntnisse präsentieren.

Hustvedt ist eine uneitle Denkerin, die den Essay – auf Deutsch Versuch – wörtlich nimmt. Ihre Aufsätze sind Berichte aus ihrer Denkwerkstatt, sie haben, auch durch die Ich-Perspektive, etwas sehr Intimes, sie sind frei in der Form und spannen oft weite thematische Bögen. Manchmal fragt man sich, ob die Bögen nicht zu weit sind, ob die Fülle der 32 Texte insgesamt nicht doch zu groß ist. Aber man muss den Band ja auch nicht unbedingt vollständig durcharbeiten. Die Wahrscheinlichkeit, es doch zu machen, ist aber groß. Denn die Essays sind nicht nur klug, sondern auch ähnlich spannend zu lesen wie die Romane der brillanten Siri Hustvedt. ■

Siri Hustvedt

Leben, Denken, Schauen

Essays. Aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller und Erica Fischer. 496 S., geb., € 25,70 (Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2014)

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