Nackt ist nur mehr die Angst

(c) Clemens Fabry
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Vor 30 Jahren hätte ich darauf gewettet, es würde heute bei den unter 30-Jährigen gut die Hälfte ganz selbstverständlich nackt baden. Tun sie aber nicht. Warum? Auffallen, aber ja nicht Herausfallen: wie uns Individualismus zu Konformisten macht.

Endlich wieder das Meer auf der Haut spüren und nackt in der Sonne trocknen. Ist doch selbstverständlich, natürlich, möchte man sagen; keinerlei Textilien kleben an der Haut, kein lästiges Umkleiden, kein Herumschleppen von überflüssigen Behelfen. Stunden unbeschwerter und geldloser Freiheit. Aber sonderbar, immer noch ist diese Freiheit ein Privileg, ein gefährdetes obendrein. FKK heißt die Nische, wie ein Ausrufezeichen: Achtung, Aussätzige! Noch sonderbarer: Auch diesmal, wie schon die Jahre davor, sind viele Ältere da und etliche mittleren Alters, aber nahezu keine Jüngeren. Diese Freiheit nackten Badens, sollte das nicht auch Jüngere reizen wo doch gerade Jugend nach Freiheit lechzt und sich nach Belieben Freiheiten herausnimmt.

Vor 30 Jahren hätte ich darauf gewettet, es würde 30 Jahre später, also heute, bei den unter 30-Jährigen gut die Hälfte ganz selbstverständlich nackt baden. Und jetzt das! Warum? Spricht denn rational etwas dagegen? Die sinnlichen Vorzüge des Nacktbadens sind offensichtlich, dazu Bequemlichkeit, geringerer Aufwand. Da versagen die gängigen Erklärungen. Was dann hält massenhaft die Jüngeren fern? Ästhetische Abstoßung? In den FKK-Nischen sind Voyeure eher selten. Und was hätten Jüngere zu befürchten? Jüngere Leiber sind meist ein angenehmerer Anblick, und wer alte Körper abstoßend findet, ist auch am Textilstrand ausgiebig bedient. Gewiss, das Spiel mit Verhüllungen und Maskierungen fällt hier flach; aber das ist eine andere Geschichte.

Wären Prüderie oder Scham die Erklärung? Ausgerechnet bei den Jüngeren? Kein Film verkauft sich ohne inszenierten Koitus; bloße Nacktheit genügt schon lange nicht. Gewiss, in den durch Jahrhunderte mittels verbotener Sinnlichkeit gequälten Gesellschaften mögen tiefe Ängste herangezüchtet worden sein, die nicht mit der Zertrümmerung einiger Tabus aufzulösen waren. Aber war nicht gerade das Brechen des Tabus über der Nacktheit und speziell des Anblicks von Nacktheit einer der ersten und mächtigsten Siege einer auch sinnlichen Aufklärung?

Rational nachvollziehbare Beweggründe könnten das Verhalten Einzelner erklären, aber nicht das massenhafte Fernbleiben Jüngerer. Es müssen starke Gefühle am Werk sein, Gefühle jedoch, die im Bewusstsein der Fühlenden und Entscheidenden nicht rational adäquat abgebildet sind. Zwei starke, gegensätzliche Gefühle wirken da zusammen. Zum einen massive Angst, in die Nische der Nacktbadenden abzugleiten, zum anderen ein Verdrängen dieser Angst. „Nicht aus Angst gehe ich dorthin, wo alle hingehen, es ist meine souveräne und selbstverständliche Entscheidung; das geht niemanden etwas an.“ Das Fernbleiben als souveräne Entscheidung souveräner Individuen, etwas ganz selbstverständliches, ein Verhalten, das keine Fragen aufwirft oder auch nur zulässt?

Es lohnt sich nachzufragen. An der banalen Frage der unreflektierten Abwehr gegen das Nacktbaden wird, so meine ich, die aktuelle Dynamik der Subjektivität aufspürbar. Hier versagt die gängige atomistische Auffassung von Menschen als vermeintlich souveränen Individuen; Gesellschaft (die es übrigens gar nicht gibt, hieß es schon vor Jahrzehnten) sei die Anhäufung solcher Individuen, die nur ihren Vorteil gegenüber Konkurrenten anstreben. Das ist das zentrale Paradigma der herrschenden Auffassung der Menschenwelt. Aus dem Zusammen- und Gegenspiel der unzähligen souverän handelnden Egos entstünden die Finanzmärkte, die Staaten und all die anderen Einrichtungen und Strukturen. Geschichte sei die Geschichte des Aufstiegs des Homo oeconomicus hin zu seinem Sieg in der neoliberalen Weltordnung.

Beginnen wir also die Untersuchung nicht bei den üblichen Verdächtigen, den Strukturen, Machtverhältnissen, bei der Kapitaldynamik und den zugehörigen Institutionen und politischen Eliten, sondern eben beim zentralen Paradigma – Menschen als souveräne Egos, souverän als Konsumenten und Marktteilnehmer. Das intellektuelle Instrument für solche Untersuchungen können wir bei René Girard finden, einem der bedeutendsten Sozialwissenschaftler der vergangenen 40 Jahre. Girard und unter seinem Anstoß viele Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen haben nicht allein den Mythos des Homo oeconomicus demontiert, sie können darüber hinaus ein taugliches Paradigma menschlichen Existierens dem entgegensetzen, den Homo mimeticus.

Dabei geht es nicht um eine moralische Aufspaltung, hier die bösen Gier- und Neidhammel, dort die guten Empathiker und Versöhnler. Die Kritik zertrümmert die Zentralfigur, das souveräne Ego. Anknüpfen kann die Kritik an abgedrängten Traditionen; hat nicht schon Friedrich Nietzsche das Ego als Phantom verstanden?

Keineswegs souverän sind die Personen und ihre Zusammenschlüsse, vielmehr vielfältig eingebunden in mimetischen Beziehungen. Das Nachahmen anderer, wechselseitige Ansteckung, vor allem das ständig wiederkehrende Aufflammen von Gewalt und die Versuche, die Gewalt durch Ordnungen einzudämmen oder zu kanalisieren, das prägt das Grundmuster des Existierens. Das gilt für den nahen Umkreis der Personen ebenso wie für Staat und Wirtschaft. Die Finanzmärkte: Orte der Panik.

Das mimetische Grundmuster verurteilt weder zu gutem noch zu bösem Handeln – wie immer solche Unterscheidungen begründet und institutionalisiert würden. Vielmehr erscheint menschliches Leben als Drama. Wer steckt wen an, womit und wie? Wen habe ich als meine peer group anerkannt, wen ahme ich nach – und wie? Diese dramatische Wirklichkeit wird durch den Wahn eines selbstbestimmten, nur den Bedürfnissen folgenden Egos unterdrückt und ausgeblendet. Das ist die Geschichte des Aufstiegs des Homo oeconomicus.Anstatt die leisen Ansätze zu Empathie, Wohlwollen, fröhlichem Wettstreit, Zusammenarbeit-reifen-Lassen, positiver Mimesis wuchert negative Mimesis. Neid, Gier, Vernichtungskonkurrenz, auch sie Momente der mimetischen Beziehungen, steigen auf zum scheinbar selbstverständlichen kulturellen Muster. Das wird abgeschirmt gegen Kritik und Wandel durch die Kunstfigur des Phantom-Ego: Das Individuum, souverän und selbstbestimmt, wolle es so. Das sei Realität. Alles andere Spintisiererei.


Gegenwärtig wird
unter maximalem Selbstzwang gelebt. Die Grundbefindlichkeit vieler Menschen ist Angst, potenzierte Angst, weil das mimetische Funktionieren verlangt, Ängste zu leugnen und/oder auf Sündenböcke abzuschieben. Um keinen Preis darf der narzisstische Angst-Mimetiker Ängste eingestehen, auch nicht vor sich selber. Die grassierende Verstimmung, die verkappte Traurigkeit (gerade in den Reichtums- und Expansionszonen), die stumpf hingenommene Verstrickung in die soziale und ökologische Verödung der Welt, der Mangel an Orientierung, kurz: der global vordringende Angst-Mimetiker – wollen wir das als Verhängnis hinnehmen?

Erinnern wir uns an das alteuropäisch begründete, fiktionale Subjekt der Aufklärung. Gewiss, von der Logik der alten Aufklärung haben wir uns schmerzhaft gelöst; weg vom idealistisch zur Befreiung aus Unmündigkeit verbrämten System des Vernunftzwangs und Selbstzwangs; mühsam wurden aus den stolzen Maschinisten der vermeintlich befreienden Naturbeherrschung angstvoll-rücksichtslose Rädchen in der Maschinerie panischer Finanzmärkte. Paradoxerweise soll das Rädchen selbstbestimmtes Subjekt sein. Doch das souveräne Ego als vermeintlicher Kern der Akteure ist Phantom. Wir sind, und das nicht bloß als Kollektive, sondern als sinnlich zentrierte Einzelne, vor allem dies: mimetisch Kommunizierende. Tätige und Sprechende sind wir, gewiss, aber – an René Girards Einsichten anknüpfend – als Begehrende, Befürchtende, Träumende sind wir zuoberst doch (meist unreflektiert) Nachahmende. Die anderen und das andere sind immer schon jeweils in mir verkörpert.

Werfen wir einen Blick zurück an die Nackt- oder Textilstrände, an denen diese Untersuchung begann. Die vermeintlich souverän und selbstverständlich dem Nacktbaden fernbleibende Person, hat sie nicht in ihrem eigenen Ego jene anderen verinnerlicht, die massenhaft, und ohne darüber nachdenken zu müssen, eben die Ängste vermeiden, die ein nicht konformes Verhalten lostreten würde; jene anderen, die ihrer zwanghaften Konformität deswegen nicht gewahr werden, weil das Teilnehmen an einer schrankenlosen Jagd nach selbstbestimmten Unterscheidungen von ihnen eine unbefragte Konformität einfordert? Angstvoll die Ängste maskieren! Am Beispiel der Strände: abgedrängte Nacktheit. Die Verhaltensnorm lautet: „Unterscheide dich von den anderen, aber tu es genau so wie die anderen!“

Damit sind wir eine Spiraldrehung weiter in der Do-it-yourself-Demontage des Subjekts. Gestern noch galt: „Du bist deines Glückes Schmied“ und vor allem „deines Unglücks Schmied“. Heute aber gilt: „Du bist freier Konsument, zeig keine Angst, mach's wie die anderen freien Konsumenten, dann fällst du nicht heraus und fällst doch auf, bist also nicht einsam, gehörst dazu.“ Alles ist Konsum, und „es war allein meine Entscheidung“.

Zum freien Konsumenten (selbst-)dressiert, entschwindet den Zeitgenossen die Ahnung, sie könnten sich als Citoyens zu erkennen geben – die große Hoffnung der alten Aufklärung, Citoyens als Kehrseite der mündigen Einzelnen. „Der oberste und wahrscheinlich wichtigste (wenn auch kaum einmal benannte und noch seltener öffentlich debattierte) Zweck des Konsumierens in der Konsumentengesellschaft ist nicht die Befriedigung von Bedürfnissen, Sehnsüchten oder Wünschen, sondern die Kommodifizierung, die Produktwerdung des Konsumenten“, schreibt Zygmunt Bauman. Die andressierte Selbstanpreisung als Ware verlangt aber von den Individuen zweideutige Leistungen. Zum einen Selbstentblößung, die Preisgabe des eigenen Geheimnisses, jetzt „freiwillig“ im Netz – nur um dazuzugehören; Verführung wird verdrängt von Pornografie. Zum anderen ein Meiden der falschen Orte, der falschen Leute, wo man eben „nicht dazugehört“. Der Körper gehört nicht auf die Straße, nicht in die Öffentlichkeit einer politischen Aktion (und eben auch nicht, obzwar gänzlich unpolitisch, an den Nacktbadestrand).

Mehr und mehr lebt jede und jeder eingesperrt in der Scheinsouveränität des freien Konsumenten. Das Verwirrspiel der mimetischen Subjektivität verstrickt uns in Konflikte und Konformierungen, losgelöst von den jeweiligen Interessen und Lebenswünschen, die ihrerseits nur als Momente des Verwirrspiels wahrgenommen werden. Die Leugnung, mehr noch die Ignoranz gegenüber der fundamentalen Mimetik des Existierens hat die Mentalitäten freigeräumt für den wahnhaften Souveränitätsanspruch des Ego, zugleich für neue Formen der Herrschaft. Mit seinem längst begonnenen, jetzt beschleunigten Zerfall zum Phantom-Ego wird heute die Verstrickung unerträglich. Weil und solange diese Verstrickung unerkannt und verkannt bleibt, erscheint sie als ein Verhängnis.


„Wir sind, was wir erinnern“ (Karl Jaspers); wir werden, was wir erfürchten, erträumen, ersehnen, ersinnen. Aus dem Erinnern der alten Aufklärung ersinnen wir die neue Aufklärung – eine, die die Mimetik einbezieht. Erst das Nein zum Angst-Mimetiker – in mir und in den anderen, speziell auch in vorgefundenen alten peer groups – lässt aus dem Phantom-Ego ein souverän handelndes Ego-mit-anderen werden. Nicht mehr Spielmaterial unreflektiert angstvoller, oft feindseliger Kommunikation, werden wir zu Autoren befreiender mimetischer Kommunikation. Das ist heute die Ausgangslage jedes Ansatzes der Befreiung. Indem wir die permanente, obgleich bewusstseinsferne Mimetisierung zur Kenntnis nehmen und ihr zum Trotz, als ob ich/wir souveräne Akteure wären, aufhören, nur Konsumenten und Konsumbegehrende, angstvoll Angstleugnende zu sein. Und positiv: Indem wir beide Dimensionen der Realität gelten lassen, hier die sinnlich und theoretisch fassbare Realität zur Sprache bringen, dort die untergründige Mimesis wahrnehmen, sie durchklingen lassen, dem schönen Klang uns zuwenden. Indem wir strategisch handeln – gewiss, anders kein Ausbrechen –, dies aber unternehmen als in den Spielen der Nachahmung aufeinander Angewiesene.

Jetzt erst finden die politischen Errungenschaften der Neuzeit – Rechtsstaat, Republik, Demokratie – ihr Subjekt; nicht länger narzisstische, wahnhaft souveräne Expansionisten, sondern Egos-mit-anderen, fähig auch zum Aushandeln von Grenzen und Wegkreuzungen. Jetzt erst können die großen ethischen Erfindungen Würde der Person und Menschenrechte praktikabel werden, nicht mehr nur appellativ oder als Keule im Machtkampf eingesetzt, sondern Orientierung des Handelns. Und vervollständigt, wenn wir es wollen, durch die Erfindungen soziale Menschenrechte und ökologische Gleichheit.

So wird das vielfältig verwirrende Begehren zum Streben nach dem guten Leben. Das Abenteuer unterschiedlicher eigener Wege kann beginnen. Mimetisch mit anderen verbunden, wählen wir die jeweils uns wichtigen Konflikte, die Formen des Wettbewerbs und der Verständigung, wählen wir die Partner. Ansteckendes Genießen und ansteckendes Mitfühlen als Orientierung. (Der eigene Weg muss ja nicht zwangsläufig an den Nacktbadestrand führen.) ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2014)

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