Die schwarzen Achtundsechziger

VON RECHTS NACH LINKS. Die Revolution im Cartellverband – eine Erinnerung an den Jubelrektor, den CV-Ausschluss und an Otto Schulmeister.

Meine Entscheidung, das Tiroler Oberinntal zu verlassen und – vorbei an Innsbruck – nach Wien zum Studium zu reisen, war für mich lebenswichtig. Ich war das erste halbe Jahr elend einsam, hatte mich, was völlig falsch war, für Psychologie entschieden. Dann entdeckte ich, dass die für das Medizinstudium angeblich so teuren Leichen kostenlos zur Verfügung gestellt wurden und verließ frohen Herzens die finsteren Seelen-Statistiker, übersiedelte zur Heilkunst. Zu den Leichen.

Zu den Menschen und deren Lebensbedingungen, zur Erkenntnis, dass jedes Gesundheitsproblem zu einem sozialen Problem wird, jedes soziale Problem sich zur handfesten Krankheit entwickelt, dass Armut nicht nur in Afrika lebensverkürzend wirkt und Reichtum immer ein gestohlenes Gut ist, zu diesen wichtigen Erkenntnissen für ärztliches Handeln kam ich erst nach dem Studium.

Ein biertrinkender Männerbund

Bei den frommen Schwestern in Zams geboren, bei den Jesuiten in Feldkirch zu meinem Erstberuf als Lehrer herangewachsen, trat ich in Wien einer katholischen Studentenverbindung bei. Wurde Bundesbruder, Cartellbruder.

CV: ein biertrinkender Männerbund. Alle huldigen dem Prinzip der „Lebensfreundschaft“, einer immerzu und vorteilhaften Seilschaft mit Handschlagqualität. So das immer noch gültige Außenbild.

Mein Erlebnis im Inneren war ein anderes. Zwar sah sich ein Teil der Bruderschaft einer seltsamen couleurstudentischen Tradition verbunden, berauschte sich an Gesängen wie „Burschen heraus“ oder „Hussa, hussa, schieß die Sau“ und schwärmte sehnsüchtig vom „Polenmädchen in einem Polenstädtchen“. Die Gegenfraktion, die knappe Mehrheit, hatte jedoch den Ehrgeiz, aus dem maskulinen Brauchtumsverein eine Lese-Schreibe-Gilde zu zimmern.

Harte Argumentationsarbeit, aber sie gelang. Wir waren von uns und unserem Vorhaben begeistert und schrieben um die Wette. Es gab Zeiten, da waren vier Zeitschriften in unserer Hand. Der enge Kreis des Bildungsvereins neuen Typs, die Passecker-Runde, benannt nach dem täglichen Treffpunkt im gleichnamigen Espresso, kritisierte leidenschaftlich Gott und die Welt und die Hochschulen und Universitäten des Landes, in denen die einen inskribiert waren, die anderen schon lehrten. Im Jahre 1964 publizierte ich mit meinem „Leibburschen“ Manfred Leeb, er Physik- und ich Medizinstudent, eine schlaue Schrift: „Anregungen zur Reform der wissenschaftlichen Hochschulen in Österreich“. Große Aufregung bei den Professoren.

Im Jahre 1965 organisierte die PasseckerRunde das legendäre „Symposion 600“, wir luden den Philosophen Ernst Bloch (DDR-Tübingen), den Historiker Golo Mann (BRD-Zürich), den Herausgeber Rudolf Augstein („Spiegel“-Hamburg), Ingeborg Bachmann und Manès Sperber nebst anderen europäischen Größen in das Audi Max der Uni Wien und diskutierten über die „Gestaltung der Wirklichkeit“. Jubelrektor Karl Fellinger, CV, Leibarzt aller Scheichs und Potentaten, schäumte. Er wollte studentischen Fackelzug und Bier und Würstchen und dann kamen tausende Studenten und lauschten den Ausländern und verlachten die Inländer.

Wir Studenten, aufgefordert von Otto Schulmeister, kritisierten in der „Presse“ das Desinteresse unserer Professoren an Lehre und Forschung, ihre Faulheit. Jubelrektor Fellinger schäumte, Dekan Breitenecker, Mann mit Schmiss und eindeutiger Vergangenheit lud mich vor und verwarnte mich, drohte mir mit Rausschmiss.

„Ich begann zu begreifen“

Ich begann zu begreifen. Das Begreifen führte nicht nach rechts. Als ich dann offen und mit guten Argumenten für die Wahl des Juden Bruno Kreisky und die Abwahl des kreuzkatholischen Josef Klaus eintrat, wurde ich, „cum infamia“, aus Verbindung und Verband entfernt. Ich hatte mich hinausgeschrieben.

Das Hinausschreiben, die schriftliche Auslösung handfester Konflikte, ist mir und anderen aus dem Passecker-Kreis zur liebgewordenen Lebensgewohnheit geworden. Ich gründete mit anderen die Kritische Medizin, wir organisierten das Sozialstaatsvolksbegehren, ich provozierte einen roten AUVA-Generaldirektor, einen Gewerkschafter, bis er platzte. Der Passecker-Kreis lebt noch immer, er plant, monatlich einmal, die Revolution, was sonst. Ein Verleger, zwei Architekten, ein Theologe, ein berühmter Historiker, ein Diplomat, ein abgedankter Politiker, ein Arzt, ein Journalist, ein Weltreisender, ein Ökonom. Eine hervorragende revolutionäre Zelle.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2008)

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