Mogel

„So war des Kindes größte Sorge, nachts unter einer Decke zu sein, völlig bedeckt. Sonst schlief es nicht, denn jede Sekunde könnte ein Wolf einen Teil seines Armes abbeißen.“ Eine Erzählung.

Zwischen den Mülltonnen lag eine Frau, die das Kind sah, tot glaubte. Das Kind lief durch die Gassen des Dorfes. Es lief die Treppen hinunter. Es trug ein gelbes Kleid. Zitronenfalter nannte der Vater es in dem Kleid, der Lehrer nannte es so. Das Kind lief zur Boutique der Mutter. Bevor es das Geschäft betrat, durch die Glastür, hinter der Kleider an Stangen hingen, ging es eine Tür weiter, zog an der Tür, brachte sie kaum auf. Sie war aus Metall. Im Raum dahinter waren Mülltonnen. In der Ecke lag ein Bündel, mit Stoff überzogen. Es hatte ein Gesicht. Eine Tote, dachte das Kind, drückte gegen die Metalltür, die hinter ihm zugefallen war, jetzt klemmte, stürmte hinaus, als die Tür nachgab, stürzte ins Geschäft daneben, zur Mutter, zwischen die Kleider. Eine Leiche, sagte es zur Mutter. Eine Tote, nebenan. Du irrst dich bestimmt, sagte die Mutter. Das Kind getraute sich nicht, noch einmal hinüberzugehen. Bald darauf kam ein Krankenwagen und holte die Frau aus dem Müllraum ab. Zum Glück sagte die Mutter nicht abermals, dass das Kind sich geirrt hatte.

Das Kind hatte sich nicht geirrt. Das Kind hatte seine erste Tote gesehen. Eine, die zufällig noch lebte.

Zuhause war ein altes Haus am Fluss. Es war das dritte Haus, das das Kind kannte. EinHaus mit Balkon und Veranda. Die Wohnung lag im ersten Stock. Außer dem Kind und den Seinen wohnte auch ein Verrückter dort.Er hieß Gunther. Was ihn verrückt machte, fragte sich das Kind nicht. Er war verrückt, weil ihn jeder so nannte. Oft stand er mitten im Fluss und fing Karpfen. Hatte er einen gefangen, brachte er ihn nach Hause und legte ihn in ein Aquarium. Das Aquarium war kaum zehn Zentimeter länger als der Karpfen, doch Gunther war es zufrieden. Er liebte den Karpfen und wünschte ihm nichts Böses. In der Tierhandlung kaufte er Goldfische, die er ins Aquarium setzte, damit der Karpfen sie fräße. Einen der Goldfische rettete das Kind, als der Karpfen starb. Es ließ ihn in ein breites wassergefülltes Glas fallen und stellte ihn darin auf die Fensterbank.

Gunther stand amnächsten Tag bereitswieder im Fluss, um einen neuen Karpfen zufangen; ohne Erfolg. Das Kind rettete noch zwei Goldfische. Im Glas auf der Fensterbankwurde es eng. Im Sperrmüll fand das Kind ein größeres Glas, kaufte vom Taschengeld, das es nicht in der Tasche trug, sondern in einer Börse bewahrte, eine Pumpe, die Sauerstoff ins Wasser blies, während die Fische fraßen und schissen. Das Geld für die Börse erhielt es ab und zu von Verwandten, an katholischen und heidnischen Feiertagen, wennes etwas tat, das ihnen gefiel, oder wenn sie wollten, dass sie dem Kind gefielen.

Später rettete es einen Kanarienvogel, den Gunther selbst irgendwo gerettet hatte. Der Kanarienvogel endete eines Tages in einem Baum, aus dem er nicht mehr zurückkam. Vielleicht erfror er dort. Das Kind hatte ein schlechtes Gewissen, wollte sich Flügel wachsen lassen, um den Vogel zu retten, wollte sich auf eine Wolke setzen, ihn von oben angeln, mit Mücken. Wollen ist nicht immer genug, liebes Kind, sagten sie ihm. Das Kind glaubte ihnen nicht und wollte weiter.

Gunther bekam eine Freundin. Das heißt, er fand sie. Er liierte sich mit ihr. Bekommen hatte er sie wohl kaum. Sie sah nicht aus wie ein Geschenk. Wie er hatte sie graues Haar, wirkte aber irgendwie mädchenhaft, wie er irgendwie jungenhaft wirkte. Nach einigen Monaten wurde sie schwanger. Das Schwangersein dauerte nicht lange. Zumindest weniger lange als nötig, um ein Kind wachsen zu lassen. Ob sie darunter litt, war ihr nicht anzusehen. Wie sie hieß, habe ich vergessen. Auch Gunther vergaß es immer wieder. Daran, dass er sie kannte, erinnerte er sich aber, denn er ließ sie jedes Mal sofort herein, wenn sie vom Gehsteig aus Steine an sein Fenster warf. Seit er sie kannte, fing er keine Karpfen mehr. Sie mochte keine Karpfen im Zimmer. Eines Tages blieb sie aus.

Das Kind erfand ein Wesen und nannte es Mogel. Es war eine Kreuzung aus Mensch und Vogel. Mit den Menschen gemein hatte es die Unfähigkeit zu fliegen. Wie sie besaß es anstelle der Flügel Arme, allerdings mit einigen langen, die Haut an Schultern und Oberarmen bedeckenden Federn. In einer Art Kragen wuchsen sie ihm aus dem Hals. Mit den Vögeln teilte es den Schnabel und das Geräusch, das es machte, wenn es sprach. Nicht Worte brachte es hervor, sondern Gezwitscher. Mogel war, in wen das Kind sich bei Bedarf verwandelte. Mogel war, wer das Kind verstand, wenn es dachte, was einem Kind keiner zutraute. Mogel war da, wenn es allein war. Mogel verschwand, wenn es Einsamkeit brauchte. Mogel fand, was es verlor. Mogel schenkte nichts her und nahm nichts an. Fliegen durfte er nicht können, damit er dem Kind nicht davonflog, wie der Kanarienvogel.

Für den Heimweg von der Schule brauchtedas Kind oft viele Stunden, weil es auf Sandbänken im Fluss spielte, dass es in einem Raumschiff fuhr und grünes Blut hatte. Auf einem steilen Abhang begann der Wald. Im Frühling pflückte es von der Böschung die ersten Leberblümchen. Die Verspätungen machten seine Großmutter wütend, jedes Mal dachte sie, das Kind sei in den Fluss gefallen und zwischen den Karpfen ertrunken.

Im Laufe der Zeit, während es wuchs und seine Arme immer dünner wurden, besonders, als es die Masern hatte, erschienen dem Kind Dinge, die ihm früher tragisch vorkamen, relativ unbedeutend.

He has been executed, sagte das Radio, als das Kind eine junge Frau geworden war. Und es tat ihr gar nichts. Früher tat dem Kind vieles etwas. Schlangen zum Beispiel. Sie schwammen in den warmen, sich im Sommer zwischen den Sandbänken im Fluss bildenden Teichen, mit ihren aus dem Wasser ragenden Köpfchen und schnellen Bewegungen des länglichen Leibes Ruf- und Fragezeichen in rascher Folge. Das Kind schwamm nicht mehr. Es saß im Sand, zog die Knie an, sein Herz raste. Es wusste, die Schlangen waren nicht gefährlich. Man sah es an ihren Schlangengesichtern. Lächelnde Gesichter, ungiftige. Manchmal lagen sie auf dem Schotterweg, wenn das Kind zum Fluss radelte. Manchmal bremste es nicht mehr rechtzeitig. Es holperte über den Muskelkörper, der da auf dem Weg lag, nahm die Füße von den Pedalen, zog sie an sich, als wäre Hochwasser. Das Rad mit dem Kind war leicht und tat den Schlangen nichts. Wenn es sich umdrehte, sah es sie noch liegen. Nicht einmal eine Delle hatten sie. Oder sie raschelten im Gras am Straßenrand. Sogar sie hatten Angst vor etwas.

Einmal sah das Kind einen Film mit Gartenzwergen. Ein Mörderkam vor, er schlich inden Garten, schnitt erst den Zwergen die Köpfe ab, dann der Frau, die in dem Haus wohnte, das im Garten stand. Das Kind sah den Film verbotenerweise. Als es einmal angefangen hatte, konnte es nicht mehr aufhören, obwohl es nichts lieber wollte. Hypnotisiert vom Schrecken, verfolgte es den Mörder bis zum Ende. Er kam ungestraft davon.

Das Kind radelte weiter. Es fiel vom Rad, fiel sich Löcher in die Haut über dem Knie und den Ellbogen. Die Nase blutete. Ihm wurden in der Badewanne Steinchen aus den Wunden gewaschen. Das Kind brüllte. Die Mutter brüllte auch, denn sie machte sich Sorgen um den Wundstarrkrampf.

Zuhause stellte es sich einen Sessel vor dieAnrichte und wusch das Geschirr. Es wusch gerne ab, war stolz darauf. Wenn es kochte, briet es ein Ei in der Pfanne oder goss Milch über einen Teller voll Gries und Zucker. Das Kind war zufrieden, dass es diese Dinge konnte und somit unabhängig war von anderen. Es besaß einen eigenen Schlüssel und kam und ging, wann es wollte.

Die junge Frau vergaß den Schlüssel in der Wohnung, als sie den Müll vor die Tür brachte. Sie trug einen Pyjama, obwohl es bereits Mittag war, draußen schneite es. Die Hausmeisterin kannte einen Trick, Türen zu öffnen, wenn sie ins Schloss gefallen waren. Ein Stück Draht genügte ihr. Die Hausmeisterin sah aus wie eine Tante des Kindes, kam aber aus einem anderen Land.

An den Balkon der jungen Frau grenzte derBalkon eines anderen Bewohners. Manchmal, wenn er wusste, dass sie alleine zu Hause war, klingelte er um Mitternacht an der Tür und bat um eine Zitrone. Sie hatte keine. Seltener bat er um Salz. Sie gab ihm eine Packung und bat ihn, nicht mehr zu klingeln. Er klingelte am nächsten Tag nachtsum halb eins und bat um eine Zitrone. Sie betrachtete ihn durchs Guckloch in der Tür und flüsterte durchs Holz, dass sie keine Zitronen habe. Er blieb noch eine Weile stehen, Sie schob einen Sessel unter die Türklinke, für den Fall, dass er einen Draht bei sich hatte, wie die Hausmeisterin.

Eines Tages war das Kind groß, fast schon erwachsen, ungefähr acht Jahre alt, da blieb es allein zu Hause. Wenn etwas ist, gehst du zu den Nachbarn, hörte es. Oder hörte es nicht. Als etwas war, jedenfalls, ging es zu den Nachbarn. Es klingelte. Zu-den-Nachbarn-Gehen gehörte zu den furchtbaren Dingen des Lebens. Die Nachbarn öffneten die Tür, was los sei, fragten sie das Kind. Das Kind schaute verschreckt, konnte fast kein Wort herausbringen. Eine Schlange sei im Klo, sagte das Kind, niemand könne mehr aufs Klo gehen, weil dort die Schlange sei. Sie liege direkt vor der Muschel. Kaum mache man die Tür auf, läge da die Schlange. Der alte Nachbar erklärte sich bereit, mit hinüberzukommen. Er war der unheimlichste der drei Nachbarn, unheimlicher als seine geschminkte Tochter und seine ausgetrocknete Frau. Schließlich standen sie gemeinsam vor dem Klo, der Nachbar und das Kind, und er lachte. Sagte, es sei keine Schlange, und die Schlange lag dick und ohne Delle auf der Frotteematte. Sagte, es sei eine Blindschleiche, und nahm sie mit einer Zeitung, trug sie durch die Eingangstür und warf sie in die Büsche. Die Eingangstür war direkt neben der Klotür. Bitte sehr, sagte der Nachbar. Das wäre erledigt.

Das Kind fühlte sich tatsächlich erledigt und musste auch nicht mehr aufs Klo. Sorgfältig schloss es die Haustür hinter dem Nachbarn und stellte sich im Wohnzimmer hinter die Vorhänge. Weiße faltige Vorhänge waren das. Das Kind stand oft dahinter. Am liebsten stand es dahinter, wenn es ein rosa Nachthemd trug. Jetzt allerdings, stand es auf jeden Fall dahinter, egal was es anhatte.

Das Kind träumte. Immer wieder dieselben Träume. Selbstverständlich träumte es den Traum, dass es von der Brücke fiel und nie unten ankam. Doch träumte es auch interessantere Träume. Es träumte, dass es auf einer Insel schlief, umgeben von einer endlosen Fläche, auf der Wölfe streunten, in Rudeln. Alle Teile vom Kind, die sich nicht unter der Bettdecke befanden, bissen die Wölfeab. So war des Kindes größte Sorge, nachts unter einer Decke zu sein, völlig bedeckt, sonst schlief es nicht, denn jede Sekunde könnte ein unbeobachteter Wolf einen Teil seines Armes abbeißen. Ein Ohr. Wenn es erwachte, wusste es nicht, wie den breiten Graben überqueren, in dem die Wölfe wohnten, mit ihren spitzen Zähnen, einen Graben, der es von den anderen Zimmern des Hauses trennte, vom Badezimmer, vom Schlafzimmer der Eltern. Mit Todesverachtung stürzte es sich unter die Wölfe und rannte, verfolgt von schnappenden Gebissen, denen es mit knapper Not entkam.

Ein anderer Traum, den das Kind einige Male träumte, war der vom Jesuskind. Es lag in der Wiege, frisch und rosa, wie neugeboren, aber doch mit einer gewissen seinem Status entsprechenden Eleganz. Kaum schaute das träumende Kind näher hin, taten sich im Gesicht des Baby-Jesus Löcher auf. Löcher, aus denen dünne Schlangen krochen. Je länger es hinschaute, desto mehr Schlangen krochen durch das Baby, das in der Wiege lag, in der Wiege wuchs, bis es ein heranwachsender Jesus war, von überall her krochen stets mehr Schlangen in den heranwachsenden Jesus, bohrten Loch um Loch, bis man nicht mehr sah, wer er gewesen war.

Die junge Frau lag in ihrem Zimmer und schlief. Das Zimmer war Teil einer Wohngemeinschaft, was bedeutete, dass sich vier Leute eine Küche und ein Klo teilten. In der Nacht, um die es geht, träumte sie nichts, schlief tief und sehr müde, als sie unversehens erwachte und merkte, dass sie nicht allein im Bett war. Jemand anderer war da, nein, zwei andere. Sie war so schläfrig, dass sie kaum die Augen aufbrachte, um nachzusehen, wer es war. Eine der beiden erkannte sie. Es war die bulgarische Mitbewohnerin. Sie hatte dunkelbraunes halblanges Haar, erzählte viel, lachte viel und machte sich wenig offensichtliche Sorgen. Unoffensichtliche Sorgen machte sie sich vermutlich schon, aber die teilte sie mit keiner Gesellschaft. In Abständen von fünf oder sechs Tagen trafen sich die Bulgarin und ihre Freundinnen in der Küche der Wohngemeinschaft und tranken eine Flasche Wodka leer. Hallo oder etwas Ähnliches flüsterte die Bulgarin, als sie merkte, dass die junge Frau halbwach wurde. Sie flüsterte nichts zurück. Sie war zu müde, um irgendetwas zu unternehmen. Zu müde, um Personen aus ihrem Bett zu vertreiben, die sie nicht hereingebeten hatte. Sie schlief gerne alleine. Deshalb hatte sie ein großes Bett, groß genug für drei. Die Anwesenheit der zwei anderen war nicht unangenehm. Sie zerrten nicht an der Decke, schnarchten nicht, rochen nur ganz wenig nach Alkohol, außerdem nach einem Parfüm, das sie mochte. Fast hätte sie sie nicht bemerkt, wäre sie nicht zufällig wach geworden. Warm waren sie.

Einige Monate später zog sie aus der Wohnung aus, wusste nicht, wohin mit dem Bett, das ein Sofa werden konnte, wenn man wollte, verdammt schwer und unhandlich. Sie stellte das Bett auf den Lastwagen eines Bekannten und fuhr es um die Ecke, in den Hof eines anderen Häuserblocks, wo sie das Bett als Sofa neben die Mülltonnen stellte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2008)

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