Capas Koffer

Robert Capas fallender Soldat gilt als das berühmteste aller Kriegsfotos: Aber wo wurde es aufgenommen? Wer ist der Mann auf dem Foto? Und zeigt es wirklich das, was man darauf zu erkennen meint: den Augenblick des Todes? Ein kürzlich entdeckter Fotokoffer ließ auf Klärung hoffen.

Ein Jahrhundertfund, eine Sensation, ein heiliger Gral. Mit diesen und ähnlichen Ausrufen der Begeisterung ging am 28.Jänner 2008 die Nachricht über die Wiederentdeckung eines Fotokoffers von Robert Capa um die Welt. Der geheimnisvolle Koffer war in den Wirren des Spanischen Bürgerkriegs verschwunden und Jahrzehnte nach dem Tod des Fotografen in Mexiko wieder aufgetaucht. Er enthielt bisher verloren geglaubte Negative aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Die Neugier kannte kein Ende. Ließ sich, so mutmaßte man, mit Hilfe dieses Fundes gar das Rätsel des berühmtesten Capa-Fotos, jenes des fallenden Soldaten, lösen?

Blenden wir zurück: Am 5.August 1936 landet Robert Capa gemeinsam mit seiner Freundin, der Fotografin Gerda Taro, und einigen weiteren Journalisten in einem kleinen Flugzeug in Barcelona. Die Reise hat Lucien Vogel, der rührige Herausgeber der französischen Illustrierten „Vu“ arrangiert. Der Anlass: Die Reporter sollten über den Spanischen Bürgerkrieg berichten, der gut zwei Wochen zuvor begonnen hatte.

Eineinhalb Monate später, am 23. September 1936, bringt „Vu“ eine Bildreportage Capas über die Kämpfe in der Provinz Córdoba. Eines der Fotos zeigt den fallenden Soldaten. Noch verursacht das Bild keinerlei Aufsehen. Capa ist Mitte 1936 kaum bekannt. Er ist, wie viele andere auch, als glühender Republikaner und politischer Abenteurer nach Spanien gekommen. Als Fotograf war er in Paris, wohin er im Frühjahr aus Berlin im Jahr 1933 geflüchtet war, nur mäßig erfolgreich. Noch 1935 hatte er in einem Brief an seine Mutter in Budapest geklagt: „Ich muss zum Film gehen, weil ich als Fotograf keine Aussichten habe.“ Aus Spanien, so hoffte er, würde er dramatische, gut verkäufliche Bilder mitbringen, Kriegsbilder. Seit Kurzem signiert er die Abzüge nicht mehr mit seinem wirklichen Namen (Friedmann), sondern mit „Robert Capa“, Seine Freundin Gerda, die er im Herbst 1934 in Paris kennengelernt hatte – damals noch Gerda Pohorylle –, wählt mit „Gerda Taro“ ebenfalls einen neuen, griffigen Namen. Die beiden hatten erkannt, dass künftig der Name das Markenzeichen eines erfolgreichen Pressefotografen sein würde. Aber nichts deutete darauf hin, dass dieser Name seinen Träger bald weltberühmt machen würde.

12. Juli 1937: An diesem Tag druckte die amerikanische Illustrierte „Life“ aus Anlass des ersten Jahrestages des Krieges in Spanien ein Foto in großer Aufmachung: Capas fallenden Soldaten. Diesmal verschwindet das Bild nicht mehr in einer mehrteiligen Reportage, sondern steht allein auf einer Seite. Eine dramatische Szene: Der getroffene Soldat bricht unter der feindlichen Kugel zusammen. Sein rechter Arm ist ausgestreckt, die Hand, die das Gewehr umklammerte, löst sich, der Körper fällt zurück, er ist dabei, das Gleichgewicht zu verlieren. Im nächsten Augenblick wird er leblos auf dem Boden liegen. Über dem Foto prangt in großen, schlichten Lettern der Schriftzug der Zeitschrift: „Life“ – eine subtile Verschränkung zwischen Text (Leben) und Bild (Tod).

„Life“ zeigte deutliche Sympathien für die republikanische Seite und geißelte im Text zum Bild das faschistisch-klerikale Spanien. Und dennoch ist Capas Foto nun zum Symbol für das gesamte Drama in Spanien aufgerückt. Die Schlagzeile unter dem Bild ruft sie in Erinnerung: „Death in Spain: The Civil War has taken 500.000 Lives in one Year“. Ort und Zeitpunkt der Aufnahme sind, wie auch ein Jahr zuvor in „Vu“, nicht genannt. Der fallende Soldat hat keinen Namen, er steht für alle 500.000 Getöteten, republikanische wie frankistische. Der spanische Soldat, heißt es im Bildtext, ist einem Kopfschuss erlegen. Man glaubt, geleitet durch diese Beschriftung, die tödliche Verletzung tatsächlich zu erkennen: ein dunkler Fleck auf dem Kopf, vielleicht ein Stück Hirn, das die Kugel aus dem Schädel gefetzt hat. In Wirklichkeit ist dieser Fleck die flatternde Troddel, die Verzierung an der Kappe des Soldaten. Durch die ruckartige Bewegung des Kopfes war sie nach oben geschnellt.

Die Veröffentlichung in „Life“ macht Capa mit einem Schlag weltberühmt. Um den Absatz seiner Bilder muss er sich nun keine Sorgen mehr machen. 1938 stellt er, im Auftrag des New Yorker Verlegerpaares Covici und Friede, seinen ersten Fotoband zusammen. Die Layout-Entwürfe stammen von seinem Freund André Kertesz. Natürlich findet sich das Motiv des fallenden Soldat auf dem Umschlag, darüber prangt der Buchtitel: „Death in the Making“. Capa präsentiert sich darin als unerschrockener Augenzeuge der Geschichte, als Fotograf, der, stellvertretend für die Leser in aller Welt, dem spanischen Tod in die Augen schaute. Dass ein Viertel der Aufnahmen nicht von ihm, sondern von Gerda Taro stammen, erwähnt er nicht.

Der fallende Soldat gilt bis heute als das berühmteste Kriegsfoto aller Zeiten. Das Motiv ist zur Ikone geworden, geradezu zur Urszene des Krieges. Warum gerade dieses Bild? Es erzählt eine Wunschgeschichte des Krieges: Der Soldat tritt uns als heroischer Einzelkämpfer entgegen, er wird zur archetypischen Figur des unerschrockenen Soldaten, der dem Feind (der sich verbirgt) schutzlos und auf offenem Felde entgegentritt und der von einer einzigen Kugel getroffen wird. Ihm gegenüber steht, das Bild bezeugt es, ein anderer Einzelkämpfer, der Fotograf mit der Kamera, Robert Capa. Er ist, so will es die idealisierende Erzählung, der einzige Augenzeuge (Gerda Taro, die dabei war, starb ein Jahr später). Der fallende Soldat widerlegt das Bild des modernen, industrialisierten, dreckigen Krieges. Der Gefallene ist kein Opfer des technizistischen Artillerie-, Panzer- und Bombenkrieges, der die Soldaten wahllos niederwalzt und auch Zivilisten nicht verschont. Capas Soldat erzählt von einem individuellen Krieg. Sehen wir uns nur das blütenweiße Hemd des Fallenden an. Es ist, als ob der Soldat es an diesem Morgen frisch angezogen hätte. Wie ein Gewand der Unschuld.

Robert Capas Ikonedes Krieges funktionierte lange Zeit tadellos. Sie passte perfekt in das Programm des antifaschistischen Krieges gegenFranco und Hitler, siepasste in das Klima der1950er- und 1960er-Jahre, als die reine, humanistische Fotografie zum amerikanischen Exportartikel wurde und die antikommunistischen Kriege als notwendige Operationen der Freiheit verkauft wurden. Dann aber, als zum ersten Mal ein amerikanischer Krieg, jener in Vietnam, auch im eigenen Lande massiv in Verruf geriet, Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre, bekam Robert Capas Ikone erste Risse. Der britische Journalist Phillip Knightley, der unter dem Eindruck von Vietnam, den Mythos der Kriegsberichterstattung kritisch hinterfragte, äußerte 1975 in einem Buch über die Geschichte des Kriegsjournalismus erste Zweifel an der Echtheit des Fotos. Bald folgten andere Kritiker. Sie stellten Fragen, einfache Fragen, die zuvor noch niemand gestellt hatte: Wer ist der Mann auf dem Foto, wann genau und wo wurde es aufgenommen, gibt es andere Augenzeugen? Wieso hat der Fotograf schräg vor dem Soldaten Aufstellung genommen, musste der Fotograf dort nicht ebenso exponiert sein wie der Soldat selbst? Warum, so fragten die Zweifler weiter, sollte gerade der fallende Soldat nicht gestellt sein, wenn nachweisbar andere Kampfszenen Capas gestellt waren, sogar Bilder, die zum selben Zeitpunkt entstanden. Und schließlich: Warum ist das Negativ des fallenden Soldaten verschwunden (während andere aus dieser Zeit erhalten sind)?

Es dauerte nicht lange, und die Apologeten Capas sprangen in die Bresche. Was folgte, war ein jahrelanger publizistischer Indizienprozess, der mit aller Härte geführt wurde. Eine ganze Heerschar an Zeugen, Experten und Richtern trat auf: alte Spanienkämpfer, amerikanische, spanische, britische, französische und italienische Journalisten, Archivare und Historiker, Fotoexperten, Sachverständige für Ballistik, Polizisten und Spezialisten der Forensik. Augenzeugen wurden befragt, die sich erinnerten, einander widersprachen, um Aufmerksamkeit buhlten. Geprüft wurden die Bodenbeschaffenheit und Geografie, Wolkenformationen im Hintergrund der Aufnahme und der Schattenwurf auf dem Boden, die Körperhaltung, die Waffe und die Patronentaschen, die Grashalme und die Gesichtszüge des Getöteten. Alles Sichtbare wurde als bedeutungsvolles Zeichen gelesen.

Nach und nach kamen tatsächlich erstaunliche Details zum Vorschein, Ort und Zeit der Aufnahme gelten inzwischen als gesichert. Demnach entstand das Foto am 5.September 1936 auf einem Hügel in der Nähe des südspanischen Ortes Cerro Muriano, etliche Kilometer nördlich von Córdoba. Immer wieder wurden neue „spektakuläre“ Erkenntnisse präsentiert, etwa 1996, als ein spanischer Amateurhistoriker die Identität des fallenden Soldaten enthüllte. Es handle sich, so behauptete er unter Zuhilfenahme eines komplexen Indizienbeweises, um den 24-jährigen Textilarbeiter Federico Borrell García aus Alcoy, der den Anarchisten nahestand und Mitglied der Confederación National del Trabajo (CNT) war. Den vorläufig letzten Akt dieses Verfahrens bildete eine Ausstellung (mit Katalog), die der Capa-Biograf Richard Whelan im Jahr 2007 in New York zusammenstellte. Sie bündelte das bekannte Material wie zu einem abschließenden Statement.

Wozu dieser enorme Aufwand, was steht auf dem Spiel? Es geht um die Strahlkraft eines Mythos. Und es geht um die Glaubwürdigkeit eines Augenzeugen, dem sich dieser Mythos verdankt, Robert Capa. Gestellt, nicht gestellt – der Streit ist bis heute nicht entschieden. Es ist paradox: Je mehr wir über das seltsam opake Bild des fallenden Soldaten wissen, desto mehr Fragen tauchen auf. Jede Runde der Beweisführung hat neue Zweifel genährt. Jeder Zweifel hatte die Behauptung neuer Gewissheiten zur Folge. Robert Capas fallender Soldat ist trotz aller erbitterter Beweisführung ein uneindeutiges Bild geblieben. Und genau darin liegt bis heute seine Faszination. Das Foto veranschaulicht nicht einen konkreten historischen Augenblick, sondern es fungiert als Projektionsfläche einer ganzen Epoche.

Was geschah am 5.September 1936 wirklich? Robert Capa hat diese Frage nie eindeutig beantwortet. „No tricks are necessary to take pictures in Spain“, hatte er im Spätsommer 1937 einer New Yorker Zeitung auf die zaghafte Frage geantwortet, ob das Bild womöglich gestellt sei. Und er ergänzte: „The pictures are there, and you just take them. The truth ist the best picture, the best propaganda.“ In einem privaten Gespräch aus den 1940er-Jahren, an das sich seine Fotografenkollegin Hansel Mieth später erinnerte, klang er weniger entschieden: „Sie (die Soldaten) haben herumgealbert. Wir alle haben herumgealbert. Wir fühlten uns prächtig.“ Auf die Frage, ob er die Soldaten gebeten habe, den Angriff zu simulieren, antwortete er: „Verdammt, nein, wir waren glücklich, ein wenig verrückt vielleicht.“ Hansel Mieth: „Und dann?“ „Dann, plötzlich war es das wirkliche Ding. Ich hörte das Feuer nicht – zuerst nicht.“ Mieth: „Wo warst du?“ „Dort draußen, ein Stück vorne und ein wenig seitlich von ihnen.“

Übrigens: Das Negativ des fallenden Soldaten befindet sich nicht im Capa-Koffer. ■

GESCHICHTSBILDER: Die Tagung

Vom 29. bis 31. Mai ist das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien (Reichsratsstraße 17) Austragungsort einer internationalen Tagung über die mediale Konstruktion von Geschichtsbildern: „Die Unanschaulichkeit der Geschichte – Über die Darstellbarkeit des Vergangenen“.

Konzipiert wurde die Veranstaltung von Helmut Lethen und Peter Geimer. Näheres im Internet unter www.ifk.ac.at.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2008)

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