Schwindel und Schwebe

Es ist nicht ganz neu, dass sich ein Autor in einem Text mitsamt seinen Manuskripten in Luft auflöst. Gerhard Roth treibt in seinem Roman „Grundriss eines Rätsels“ sein illustres Spiel mit der Frage, was Wirklichkeit und wie sie wahrnehmbar ist.

Wenn man einen Schriftsteller literarisch um die Ecke bringen will, muss man ihn mitsamt seinen Schriften verschwinden lassen. Eine diesbezüglich gründliche Autorenauflösung unternimmt Gerhard Roth im ersten Teil seines Romans „Grundriss eines Rätsels“. Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte der Literatur, dass sich ein Autor in einem Text mitsamt seinen Manuskripten in Luft auflöst – hier buchstäblich, durch eine Gasexplosion in einem Wiener Haus am Heumarkt – und dass sich ein Germanist anschließend auf die Suche nach etwaigen Aufzeichnungen macht, Nachforschungen anstellt, ob es nicht doch noch irgendwo ein Schriftstück gibt, das man sich einverleiben könnte.

Nicht jeder Germanist verleibt sich freilich verschwundene Schriftsteller so ein wie Vertlieb Swinden, der den Zweitwohnsitz des Autors Philipp Artner in der Südsteiermark aufsucht und dort sogar eine sexuelle Beziehung mit dessen Geliebter beginnt. Eine sonderbare Geschichte kommt da in Gang, aber das war von einem Autor wie Gerhard Roth gar nicht anders zu erwarten.
Philipp Artner, der sein Geld für Bücher ausgibt, für die er in seiner Wohnung kaum mehr Platz hat, der fasziniert ist von den Zerstörungsvorgängen in der Natur, sich aber zunehmend auch für irdische Paradiese interessiert, der die Zeichen der Natur als Schrift zu deuten versucht, erinnert in vieler Hinsicht kokett an den Autor selbst, nicht nur wegen der Wohnorte Wien und Steiermark, sondern auch wegen seiner Interessen, etwa an Kunst im Allgemeinen und den Gugginger Künstlern im Besonderen. Könnte es sich bei ihnen, den „Geisteskranken“, „nicht auch um eine Verschiebung der Wahrnehmung und des Denkens handeln, die nur nicht in diese Welt passte?“ Das fragt sich Artner im ersten Teil, in dem er noch nicht verschwunden ist. Und damit wären wir unter anderem bei der Frage, was Wirklichkeit und wie sie wahrnehmbar ist.
Artner habe an einem Roman geschrieben, meint Swinden, der „,die sichtbare und unsichtbare Wirklichkeit – wie die Klein'sche Flasche – zugleich außen und innen‘ abbilde, weshalb man nie wisse, welche der beiden Seiten die äußere und welche die innere sei“. Das könnte man als poetologisches Prinzip dieses Romans lesen. Also aufgepasst!

Vordergründig begibt sich Swinden zunächst in die südsteirische, gar nicht idyllische Provinz, wo er nicht nur Artners Geliebte und ihren Sohn Gabriel kennenlernt, sondern auch in einen Kriminalfall verwickelt wird. Drei Tschetschenen, die in der ehemaligen Volksschule des Ortes gewohnt haben, werden ermordet aufgefunden. Dass in dem Teil des Romans mit dem Titel „Finsternis“ nicht nur gegenwärtige Fremdenfeindlichkeit angeprangert wird, zeigt sich an den Namen, die Roth seinen Protagonisten gibt. Gabriels Papagei heißt Aleph, die Tschetschenen nennen sich Dalatew, Zajinow und Samech; sie sind also aus hebräischen Buchstaben kreiert und verweisen damit auf ein besonders finsteres Kapitel der jüngeren Geschichte. In diesen Passagen, die mit Elementen des Kriminalromans spielen, bezieht Roth deutlich Position gegen Rechtsextremismus und Fremdenhass.

Und Swinden, der immer mehr das Gefühl hat, eine Figur aus Artners Roman zu sein? Er findet tatsächlich ein Schriftstück und darin sich selbst: Denn Artner hat ihm seine Handlungen vorausgeschrieben. Nach dem Zerreißen des Textes verschwindet Swinden, nomen est omen, erst einmal von der Bildfläche. Das gibt Pia, Artners und Swindens Geliebter, Gelegenheit für einen größeren Auftritt im Buch, später auch Gabriel, Pias und Philipp Artners Sohn, und Doris, Artners Witwe, die im Traum Besuch von ihrem verschwundenen Mann erhält. Wenn er es denn ist. Die sexuellen Beziehungen gehen kreuz und quer und wirken wie Täuschungsmanöver. Überhaupt wird gern gelogen. Viel Schwindel und Schwebe also.

Der Gedanke, sich in Luft aufzulösen, kommt schon am Anfang. Artner, der Autor, denkt ihn. „Es schien ihm als ein geradezu poetischer Akt, sozusagen im Leben zu sterben und im Leben ein Weiterleben nach dem Tod zu erfahren. Das erste Leben abzuschließen und das zweite Leben als Jenseits aufzufassen.“ Artner betrachtet Bilder von Richard Gerstl und Arnold Schönberg, die das Vergehen beziehungsweise das eigene Sich-Auflösen festhalten. Damit sät Roth etwas in die Geschichte, das für die Lektüre nicht ohne Folgen bleibt. Als Artner am Ende wieder auftaucht, stellt man sich die Frage, ob er tatsächlich durch die Gasexplosion zu Asche pulverisiert wurde. Der Zweifel wird verstärkt und variiert durch Andeutungen. So ist auch Gabriel einmal kurz überzeugt, dass „alles, was bisher geschehen war, von jemanden erfunden und von jemand anderem inszeniert worden sein musste“.

Die Welt als Theater, die Wirklichkeit als Traum? Hat da ein Schriftsteller sein Nach-leben, die Rekonstruktionsversuche seiner Hinterbliebenen imaginiert? Womöglich im Sterben? Sind all diese Figuren seine Geschöpfe? Auch das ein bekanntes und reizvolles Motiv der Literatur. Schon Jorge Louis Borges stellte die Frage: Was, wenn wir alle Figuren sind, geschrieben von einem Autor?

Dabei ist dieser Roman aber kein innerliterarisches, rein metafiktionales Spiel, sondern bezieht sich auf die Lesbarkeit der Wirklichkeit: Wie können wir uns je sicher sein? Bleibt nicht immer alles in Schwebe? Ist es nicht sogar nötig, dass vieles in Ungewissheit bleibt? Etwa auch die Frage, wohin man verschwindet, wenn man die Sprache verliert oder wenn man stirbt. Den „Grundriss eines Rätsels“, nämlich des Daseins: Roth buchstabiert ihn in seinem Roman.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2014)

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