Ein Drehbuch für Charlie?

In Michael Köhlmeiers Roman „Zwei Herren am Strand“ stehen zwei Ikonen des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt: Charlie Chaplin – Prototyp des sozialen Aufsteigers – und Premier Winston Churchill, dem das politische Abseits droht.

Ein Roman ist ein Roman ist (k)ein Roman. Keine andere Gattung kann sich beim Schreiben so radikal neu erfinden wie diese. Wobei wir ja seit Langem gewohnt sind, im Roman Essayistisches und Lyrisches, recherchierte Fakten und Fiktion ineinanderfließen zu sehen. Robert Menasse hat einen seiner Protagonisten konsequenterweise Roman genannt, und zwar in seinem bedeutenden Brasilien-Roman „Sinnliche Gewissheit“, eine Figur, in dem die diversen Eindrücke in verschiedensten Formen zusammenfinden. Nun brauchten wir noch einen Roman, dessen Protagonist und Titel Roman heißt. Er wird geschrieben werden.

„Zwei Herren am Strand“, man könnte meinen, der „alte Mann“ Hemingways habe sich am Meer verdoppelt: zwei Herren, die ihre Geschichten mitbringen, um sie zu einer werden zu lassen, Wahlverwandte, keine Zwillinge, deren Nachnamen alliterieren, immerhin: Chaplin und Churchill. Man sah sich in Hollywood und New York, in London und auf Churchills verwinkeltem Landsitz Chartwell in der Grafschaft Kent. Bedenkt man, wo sein Ahne, über den er eine bemerkenswerte Biografie schreiben sollte, John Churchill, der erste Duke of Marlborough und „Englands Retter“ im Spanischen Erbfolgekrieg, gewohnt hat, in Blenheim Palace nämlich, dann war Chartwell eher ein Exilort.

Bis zu seiner Ernennung zum Kriegspremierminister im Mai 1940 bestand Churchills politische Lebensbilanz aus einer Chronik des Scheiterns. Und doch avancierte er zu einem der bestbezahlten Kolumnisten seiner Zeit. Er profilierte sich als imperialistischer Reaktionär, der Gandhi als einen „halb nackten Fakir“ abqualifizierte und auch sonst (seit seinem Amtsantritt als Erster Lord der Admiralität im Jahr 1911) meist durch krasse politische und militärische Fehleinschätzungen auffiel. Aber er war ein Churchill und konnte sich standesgemäß alles leisten, zeitweise sogar liberale, ja soziale Anwandlungen zwischen 1904 und 1907 etwa, als er durch sozialpolitische Vorstöße die Verelendung der Arbeiterschaft aufzuhalten versuchte.

In Charlie Chaplin, der in Kindheit und Jugend die Armenhäuser Londons kennenlernen musste, dessen Vater Alkoholiker war und dessen Mutter an psychischen Störungen litt (beide entstammten der Welt der „Music Halls“), in diesem Urkomiker der Stummfilmzeit, der den Vagabunden oder „Tramp“ in die Lichtspielhäuser der Welt brachte, dürfte Churchill die Verkörperung dieser sozialen Gegenwelt erkannt haben: Chaplin, der prototypische Aufsteiger – Churchill, dem bis 1939 immer wieder der Abstieg drohte. Im Jahr 1929/30 bei seinem Besuch bei Chaplin in Hollywood dachte Churchill sogar daran, fortan Drehbücher zu verfassen: Der Hocharistokrat, der für den Tramp schreibt. Somit schien alles möglich. Chaplin und Churchill: der eine leger, ganz in Weiß, lachend, immer zu Pirouetten aufgelegt, der andere zugeknöpft mit Weste und Uhrenkette, ungelenk wirkend, peinlich betreten notdürftig in die Kamera lächelnd.

Es gibt Stoffe, die sind im wirklichen Leben zu romanhaft, als dass daraus ein wirklicher Roman werden kann. Dieses Gefühl beschleicht einen, wenn man „Zwei Herren am Strand“ liest und wieder liest. Denn immerhin ist der Autor dieses „Romans“, der keiner sein kann, Michael Köhlmeier, einer der profiliertesten deutschsprachigen Schriftsteller der Gegenwart, der mit „echten“ Romanen wie „Abendland“ (2007), „Madalyn“ (2010) und „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ (2013) Meilensteine heutiger Erzählkunst aufgestellt hat.

Verständlich, dass er nach diesem Stoff gegriffen hat – zwei Ikonen des 20. Jahrhunderts, ein Gegensatzpaar, unterschiedlicher kaum vorstellbar, und doch verkörperten sie je auf ihre Weise immense Ambitionen: der Darsteller und der Machtmensch, der Komödiant und der Kauz, vereint zuletzt, als sie sich kaum noch sahen, in ihrer unbedingten Gegnerschaft gegen den Unmenschen, der wie Chaplin auch im April 1889 geboren wurde. Handelt es sich doch um einen Stoff, der über das Übliche, die kleinen Schicksale, die das Provinzielle dennoch milde würzen, weit hinausgeht. Und Köhlmeier fand auch dafür eine Form: 44 Erzählabschnitte in fünf Teilen, eine kleine, Authentizität beglaubigende Rahmenhandlung. Der Vater des Erzählers ist der Gewährsmann, der in Verbindung mit Churchills Privatsekretär Patrick Kinna gestanden hat, und zwar seit 1974, als er diesen nach einer Veranstaltung mit dem unvergessenen Sebastian Haffner, einem Churchill-Enthusiasten der ersten Stunde, angesprochen hat.
Was folgt, liest sich mit Fontane gesagt „apart“, natürlich, es entstammt ja Köhlmeiers vielfach erprobter Werkstätte. Die Charaktere gewinnen Profil, haben sich manches zu sagen, reden aneinander vorbei. Man kann sich auf die (vermeintliche) Chaplin-Formel verständigen, „Alles, was ist, ist Metapher.“ Zwischeneinfälle fallen nicht immer durch Originalität auf. Wenn Churchills Tochter Sarah Chaplin auffordert, sich selbst zu spielen, dann klingt dies nach Thomas Bernhards „Stimmenimitator“, der alles kann, nur nicht seine eigene Stimme imitieren.

Je mehr wir in diesem Text lesen, desto unklarer wird, ob wir uns in einer biografischen Doppelskizze befinden, einem Essay über Geschichtsschreibung (erhellend, was dem Erzähler zu Churchills „Marlborough“ einfällt, nämlich, dass Churchill in seiner Biografie des kriegerischen Ahnen in dessen „Kampf gegen Ludwig XIV. seinen eigenen Kampf gegen Hitler symbolisch vorweggenommen habe; wobei die Frage ist, ob hier Gleich mit Gleich verglichen werde), oder ob wir den Erzähler dabei beobachten, wie er selbst feststellt, dass seine Fiktionalisierungskunst mit der Fülle des Quellenmaterials nicht mehr Schritt hält. Zunehmend drängt sich Handbuchwissen zwischen die Schichten des Fiktiven. Wieder empfindet man Unbehagen an dieser versuchten Mehrfachkonstruktion, die zu viel unter Chaplins und Churchills Hüte bringen möchte.

Vorstellbar ist jedoch auch, dass der erfahrene, mit vielen Wassern gewaschene Schriftsteller Köhlmeier das Dilemma seines Erzählers und dessen Erzählens angesichts dieser Stoffkomplexität schlicht vorführen wollte. Dann ist ihm dies gelungen, denn – wie gesagt – gewinnbringend lesbar sind diese anregenden fünf „Teile“ durchaus – nur eben allenfalls bedingt als Roman. Übrigens findet sich das Betriebsproblem („Geheimnis“ wäre zu viel gesagt) dieses Textes nahezu genau in seiner Mitte. William Knott schreibt dem Vater des Erzählers: „Sir Winston hätte es gefallen, wenn sein Buch (über Marlborough) als Roman bezeichnet worden wäre – allerdings, fügt er hinzu, hätte ihm vorher erst einer erklären müssen, welche Erweiterung der Begriff Roman im 20. Jahrhundert erfahren habe.“ Wie wahr.

Köhlmeier und seinem Erzähler muss man das nicht erklären, und so konnten sich auch beide ohne Gewissensnöte darauf verstehen, sich selbst diesen „Gefallen“ zu tun und „Zwei Herren am Strand“ einen Roman zu nennen. Die Leser können sich derweilen Gedanken darüber machen, wie anders sie diesen Stoff erzählt hätten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2014)

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