Der Mythos vom schiitischen Halbmond

Die Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten wird vom Westen herbeigeredet. Sie könnte eine sich selbst erfüllende Prophezeiung werden.

Vor kurzem legte der israelische Vize-Premierminister Shaul Mofaz in einer Schlüsselfrage des Nahost-Friedensprozesses sein Veto ein. Die Rückgabe der Golanhöhen an Syrien käme der Errichtung eines „iranischen Stützpunktes“ an der israelischen Grenze gleich und wäre daher nicht nur politisch naiv, sondern überhaupt gegen jede Vernunft. Mofaz' Kommentar ist symptomatisch für eine Vorstellung, die auch in den USA tief verwurzelt ist. Der Iran wird als hegemoniale Macht gesehen, die versucht, durch eine Reihe schiitischer Handlanger die Region zu dominieren. Diese fünfte Kolonne des Iran soll sich von Beirut über Damaskus und Gaza bis Bagdad und schließlich vom Iran über Saudiarabien bis in den Jemen erstrecken. Ironischerweise bringt diese Sicht der Dinge Israel manch merkwürdigen Partner ein. Der ägyptische Präsident Mubarak behauptet, dass die Schiiten „dem Iran gegenüber immer loyal“ seien, während König Abdullah von Jordanien das Schlagwort vom aufgehenden „schiitischen Halbmond“ prägte. Dieser „Aufstieg der Schiiten“ und die daraus resultierende „Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten“ soll für die immer tiefere Kluft in der Region verantwortlich sein.

Schiiten sind kein homogener Block

Diese Vorstellung beruht auf Verallgemeinerungen, die mehr über diejenigen verraten, die sie äußern, als über die Realität. Man denke an den Irak, wo der aufgehende „schiitische Halbmond“ oftmals für einen großen Teil des Chaos verantwortlich gemacht wird. Angeblich deuten die jüngsten Entwicklungen im Irak auf einen fundamentalen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten in der Region hin und zeugen von einer böswilligen Einmischung des Iran. Aber ist der Irak wirklich symptomatisch für ein groß angelegtes schiitisches Programm?

Die religiösen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten sind seit dem Sturz Saddams zwar eskaliert, aber die irakischen Schiiten sind kein homogener Block. Im Gegenteil. Angesichts des über alle religiösen Grenzen hinweg herrschenden irakischen Nationalismus ist es weit hergeholt, die irakischen Schiiten als bloße Erfüllungsgehilfen des Iran zu betrachten. Was wir heute im Irak beobachten, sind nicht zunehmende Differenzen zwischen religiösen Gemeinschaften, sondern eskalierende interne Machtkämpfe innerhalb der sunnitischen und der schiitischen Gemeinschaft. Die anhaltende Gewalt in Basra, die Kämpfe zwischen den sogenannten sunnitischen „Awakening Councils“ und der Al-Qaida im Irak sind ein Ausdruck davon. Tatsächlich deutet die Eskalation auf einen wachsenden Kampf zwischen der föderalistischen Position des schiitischen Premierministers Nouri Al-Maliki und der zentralistischen Haltung des schiitischen Klerikers Muqtada al-Sadr hin. Dieser Kampf wird die politische Struktur im Irak definieren.

An dieser Stelle kommt die Zusammenarbeit zwischen Sunniten und Schiiten ins Spiel. Weitgehend unbemerkt gelang es sunnitischen und schiitischen Zentralisten im Irak in den letzten Monaten, eine politische Plattform zu gründen, in der religiöse Spannungen keine Rolle spielen. Diese Plattform fordert die Verwaltung der irakischen Bodenschätze durch die Zentralregierung und die Verschiebung des bevorstehenden Referendums über den Status der Stadt Kirkuk. Der Wandel in der Regierung ist ebenfalls bemerkenswert. Sunnitische Minister, die die Regierung seit dem Vorjahr boykottierten, sind an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt. Im Irak gibt es also sowohl eskalierende Gewalt zwischen den religiösen Gruppen als auch vorsichtige Schritte in Richtung interkonfessioneller Bündnisse.

Teherans Irak-Politik ist defensiv

Und was ist nun mit dem Iran? Im Gegensatz zu den Schuldzuweisungen durch die USA kann dem Iran keine ungezügelt aggressive Haltung gegenüber dem Irak vorgeworfen werden. Natürlich hat kein politischer Entscheidungsträger des Iran Interesse an einem Erfolg der USA im Irak, der auch im Iran das Thema Regimewechsel wieder aufs Tapet bringen könnte. Aber das Leitmotiv hinter der iranischen Politik wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Engagements scheint in erster Linie defensiver Natur. Die Erinnerungen an den achtjährigen Aggressionskrieg des Irak gegen den Iran in den 1980er-Jahren sind noch nicht verblasst. Aus der Sicht des Iran müssen alle künftigen im Irak entstehenden Bedrohungen abgewendet werden, indem man die Beteiligung der Schiiten und Kurden an der irakischen Regierung sichert.

Iranische Gefahr: Vom Westen benutzt

Mit diesen komplexen Zusammenhängen können viele Beobachter angesichts der bequemen und einprägsamen Rhetorik vom „schiitischen Halbmond“ nichts anfangen. Den gewöhnlichen Arabern sind die Zusammenhänge nicht verborgen geblieben. Eine von der University of Maryland durchgeführte Umfrage zeigt, dass eine große Mehrheit der Araber in der Region den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinejad als einen der drei beliebtesten politischen Führer der Welt sieht.

Anstatt die Situation im Mittleren Osten zu beschreiben, wird die Vorstellung einer prinzipiellen Bedrohung durch den Iran für die Unterstützung zunehmend instabiler Regime durch den Westen benutzt. Außerdem muss die übertriebene Darstellung als Ausrede für politische Unbeweglichkeit und einen stagnierenden Reformprozess in der Region herhalten. Doch die Überhöhung der angeblichen schiitischen Bedrohung hat ihren Preis. Das Gerede von einer Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten könnte eine sich selbst erfüllende Prophezeiung werden. Am Ende könnte die alarmistische Rhetorik den Status quo in der Region eher gefährden als schützen.

Michael Bröning leitet die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Amman. Die FES ist eine der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nahestehende politische Stiftung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2008)

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